Die Ankündigung der Baumarktkette OBI Mitte Juli, in Zukunft komplett auf Werbeprospekte zu verzichten, hat in der Werbe-, aber auch Printbranche ein mittleres Erdbeben ausgelöst. Zwei Wochen später verlautbarte die REWE Group, Deutschlands grösster Lebensmitteleinzelhändler, bis Mitte 2023 komplett auf Werbeprospekte zu verzichten. Ist der Werbeprospekt eine aus der Zeit gefallene Werbeform, oder hat er auch in der Zukunft eine Berechtigung im Media-Mix? Wenn er zielgruppenspezifischer und individueller wird, mit Sicherheit schon!
Mehr als 28 Milliarden Werbeprospekte landen jährlich in den Briefkästen deutscher Haushalte – und das nicht ohne Erfolg. «Viele Familien lesen sie samstags am Frühstückstisch. Sie werden aktiv konsumiert – und das macht sie für den Handel so wertvoll. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man mit Fernsehwerbung, Radiospots oder Online-Bannern berieselt wird und das mehr oder weniger unwillig über sich ergehen lässt», sagt Jens-Peter Gödde vom Kölner Institut für
Handelsforschung (IFH).
Die Unternehmen OBI und REWE wollen künftig verstärkt auf digitale Kanäle setzen. REWE lässt nach eigenen Angaben bisher wöchentlich rund 25 Millionen Flugblätter an deutsche Haushalte verteilen. In einem ersten Schritt wird die Auflage um 4 Millionen Exemplaren reduziert. Ab Mitte 2023 werden dann keine Prospekte mehr verteilt. REWE-Chef Lionel Souque betonte in einem Gespräch mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», mit dem Verzicht auf Prospekte reduziere man den CO2-Fussabdruck massiv. Die Umstellung spare mehr als 73‘000 Tonnen Papier, 70‘000 Tonnen CO2, 1,1 Millionen Tonnen Wasser und 380 Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr.
Statt auf Prospekte will der Konzern stärker auf digitale Kanäle und Anzeigen in klassischen Medien setzen. In einem ersten Schritt will REWE ab Anfang August die Auflage der Prospekte um vier Millionen Stück senken. Für REWE und OBI stehen sowohl Umweltbedenken als auch Argumente für den Ausstieg im Vordergrund.
Internet: 3. Platz im globalen Stromverbrauch
Das hört sich zunächst gut an – aber auch eine rein digitale Kommunikation hinterlässt einen CO2-Fussabdruck, der gar nicht so klein ausfällt. Alleine die gesamte Infrastruktur des Internets verschlingt Unmengen an Strom. Wenn man das Internet global betrachtet und als Land ansehen würde, belegt es direkt nach den USA und China aktuell den 3. Platz im Stromverbrauch und liegt mit 800 Millionen Tonnen CO2 auf Platz 6 bei den Emissionen. Mit 3,7 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen hat das Internet mittlerweile den Flugverkehr (2 Prozent) längst hinter sich gelassen.
Ein weiterer Punkt ist die Recyclingrate, die bei Elektroschrott gerade einmal bei 40 Prozent liegt. Im Vergleich dazu werden grafische Papiere zu fast 80 Prozent recycelt. Um die Lücke in der Produktion zu schliessen, braucht es auch Frischfasern, die überwiegend aus Sägewerksabfällen und Durchforstungsholz stammen. Der REWE-Vorstand hat natürlich recht, dass bei der Papierherstellung viel Wasser verbraucht wird. Allerdings werden 80 Prozent davon in einem geschlossenen Kreislauf verwendet und am Ende der Produktionskette wiederaufbereitet.
Die Druckindustrie – ein nachhaltiger Wirtschaftszweig
Ob die Umstellung von Print auf Digital der Umwelt wirklich etwas bringt, ist anhand dieser Zahlen mehr als fragwürdig. Bei steigender Nutzung digitaler Kanäle wird der CO2-Fussabdruck der Unternehmen eher grösser als kleiner. Früher hätte man von Augenauswischerei gesprochen, heute bezeichnet man so etwas als Greenwashing. Wie viel CO2-Emission die rein digitale Kommunikation verursacht, wird von den Unternehmen, so hat man den Eindruck, vollkommen ausblendet.
Aus der Sicht des Bundesverbands
Druck Medien gehört die Druckindustrie zu den nachhaltigsten Wirtschaftszweigen in Deutschland. Die digitale Kommunikation dagegen mit ihrem deutlich grösseren Bedarf an Energie und nicht nachwachsenden Rohstoffen sei nicht ansatzweise umweltfreundlicher als Print.
Unverzichtbar im Media-Mix
Zusätzlich wird oft der Erfolg von Werbeprospekten im Handel von einzelnen Playern angezweifelt. Ausserdem könne man nur schwer junge Zielgruppen erreichen. Nach einer repräsentativen Umfrage von
IFH Media Analytics lesen 90 Prozent der Menschen in Deutschland zumindest gelegentlich gedruckte Prospekte – gut drei Viertel aller Befragten sogar jede Woche. Für Lebensmittelhändler und insbesondere Discounter ist der Verzicht auf Werbeprospekte nach Einschätzung des Branchenkenners Jens-Peter Gödde jedoch eine noch grössere Herausforderung als für Baumärkte.
«Da gibt es viele Leute, die mit seiner Hilfe ihren Wocheneinkauf planen und entscheiden, wo sie diesmal einkaufen», versichert Gödde. Angesichts der steigenden Preise für Lebensmittel und dem Bemühen vieler Verbraucher, ihr Geld zusammenzuhalten und Sonderangebote zu nutzen, dürften die Prospekte aktuell noch an Bedeutung gewinnen, glaubt er.
Auf der Sympathieskala ganz oben
Die Österreichische Post hat 2019 eine interessante Befragung bei
Endkunden durchgeführt, welche Werbekanäle vor dem Kauf genutzt werden und am sympathischsten sind. Angezeigt werden in der Grafik ausgewählte Ergebnisse für die Kategorie Lebensmitteleinzelhandel (LEH). Flyer oder kleine Kataloge werden laut der Studie am häufigsten genutzt und werden auch als am sympathischsten wahrgenommen – und das mit grossem Abstand.
Digitale Kanäle schneiden deutlich schlechter ab, insbesondere auf der Sympathieskala. Jugendliche nutzen Flugblätter zwar weniger, aber das ist keine neue Erkenntnis. Sobald sie ihre erste eigene Wohnung beziehen, gewinnt der Flyer an Bedeutung. Übrigens ist die Reichweite der Flugblattnutzer im LEH von 2003 bis 2019 gerade einmal um 2 Prozentpunkte zurückgegangen.
Andere Unternehmen vertrauen weiterhin auf Print
Deshalb reagieren andere Akteure im Lebensmitteleinzelhandel wesentlich zurückhaltender. ALDI Süd versicherte in einem Pressestatement: «Gerade in der aktuellen Zeit erwarten viele Kunden gezielt die Prospektzustellung, um sich zu informieren, wo sie die günstigsten Lebensmittel in bester Qualität kaufen können.» Auch für Lidl ist der Haushaltsprospekt ein zentrales Tool im Marketing-Mix, mit dem man Kunden in definierten Gebieten gezielt über kommende Angebote und neue Produkte informieren kann.
ALDI und Lidl bespielen natürlich auch sämtliche digitalen Kanäle, sehen darin jedoch noch keinen 100-prpzentigen Ersatz für den klassischen Print-Prospekt. Der stark fragmentierte Digitalmarkt könne die Reichweite und den grossen Werbedruck über die Vielzahl beworbener Artikel noch nicht abbilden.
Druck und Digital kombinieren
Der Werbeprospekt bildet nach wie vor einen wesentlichen Touchpoint in der viel beschworenen Customer Journey. Verabschiedet man sich von einem Kanal, besteht die Gefahr, einen wichtigen Impulsgeber zu verlieren, der zum Kauf führen kann. Ein kompletter Ausstieg aus der klassischen Prospektwerbung gerade in wettbewerbsintensiven Branchen kann kontraproduktiv sein.
Im Zuge der digitalen Transformation wird auch eine crossmediale Ansprache der Kunden möglich. Auf diese Weise können die vorhandenen Vorteile des Prospekts wie etwa Reichweite, Inspiration oder auch Glaubwürdigkeit sogar verstärkt werden. ALDI Süd etwa kooperiert hier mit dem Augmented-Reality-Spezialisten
Snoopstar, der die klassischen ALDI-Prospekte über AR-Tags um interaktive Features erweitert.
In Multichannel-Kampagnen lassen sich auch die Vorteile von Druck und Digital kombinieren: direkte Kundenansprache durch individuelle und massgeschneiderte Inhalte, die präzise das jeweilige Kundenprofil berücksichtigen. Dank der Fortschritte im Digitaldruck, bei Web-to-Print und automatisierter Produktionsabläufe ist Echtzeit-Marketing nicht mehr allein auf Online-Tools wie Pop-up-Anzeigen, Banner und Mails beschränkt. Alles, was online personalisierbar ist, kann auch im Druck personalisiert werden.
Es geht also nicht darum, die Kanäle gegeneinander auszuspielen, sondern sie sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Dadurch wird aus dem Ganzen mehr als aus der Summe seiner Einzelteile – und das wussten schon die alten Griechen!
Ihr
Knud Wassermann,
Chefredakteur «Graphische Revue»