Komplementär zum Lesen oder in zunehmendem Masse wichtiger als Lesen?
Ich würde sagen komplementär. So lesen viele Jugendliche Harry-Potter-Bücher, obwohl sie die Filme bereits gesehen haben. Oder lesen einen Roman, zu dem es auch ein Computerspiel gibt.
Und wie holt man möglichst viele mit ins Bücher-Boot?
Wichtig scheint mir, dass diejenigen, die ein Bedürfnis nach dem Medium Buch haben, dieses entdecken können. Und da kommt natürlich der soziokulturelle Aspekt ins Spiel. Lesen ist nicht einfach, denn Literatur ist eine eigene Symbolwelt und kein Aneinanderreihen von Buchstaben. Man muss verstehen, wie eine Geschichte funktioniert. Das muss man lernen – und es ist anstrengend. Deshalb ist es wichtig, dass man es früh mit Büchern zu tun bekommt und es als Kind lernt. Jedes Kind müsste die Chance haben, diese geistige Welt zu entdecken.
Erkennen Sie auf dem Jugendbuch-Markt Trends?
Erstens läuft der Jugendbuch-Markt grundsätzlich gut. Und zweitens gibt es einen Trend, der die Maschinenhersteller für die grafische Industrie freuen dürfte: Der Bilderbuch-Markt – bei dem Apps interessanterweise nicht besonders gut funktionieren – floriert. Da sind die Verlage mutig und wagen in künstlerischer Hinsicht viel – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Ich habe das Gefühl, dass die Digitalisierung die Aufmerksamkeit neu und verstärkt auf Bilderbücher richtet. Es gibt eine Reihe grossartiger Bilderbuchverlage, die sehr innovativ sind. Für grössere Kinder und Jugendliche sind auch Fantasy-Bücher ein Trend – ebenso wie Comics (Donald-Duck-Bücher sind ja mittlerweile Kult) und Graphic Novels (illustrierte Romane), weil solche Bücher vom Spannungsverhältnis zwischen Text und Bild leben.
Betrachten Sie digitale Medien grundsätzlich als Gift für gedruckte Medien?
Nein, das glaube ich nicht. Und man weiss ja mittlerweile aus vielen Studien, dass die Mediennutzung komplementär ist. Wie Umberto Eco und Jean-Claude Carrière in ihrem 2010 erschienenen Werk «Die grosse Zukunft des Buches» schreiben, gab es früher mal die Befürchtung, es würde sich niemand mehr Kathedralen anschauen, weil man deren Bilder nun in Büchern abgebildet finde. Doch das trat nicht ein – ebenso wie Theater oder Kino wegen des Fernsehens nicht verschwunden sind. Ich bin überzeugt, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich je mehr freut, desto grösser das Medienangebot ist.
Stellen Sie in Ihrer Jugendmedien-Forschung einen Unterschied zwischen den Geschlechtern fest?
Es ist immer heikel, zu verallgemeinern. Aber tendenziell lesen junge Männer weniger gern, weil sie nach den unendlich langen Schultagen wohl Bewegung brauchen und es eine kulturelle Tradition ist, dass man sich im Spiel misst. Mädchen hingegen sind eher kompetitiv, wenn es um die Schule geht. Für sie ist die Schule das Hauptthema, sie sind eher erpicht auf gute Noten – und lesen deshalb mehr.
Analog zu TV-Sendungen sind auch viele Jugendromane Serien. Woher kommt das?
Das ist kein neues Phänomen. Gerade in einer Phase des Einübens von Lesekompetenz sind Serien ideal, weil sie den Einstieg in neue Bücher erleichtern: Vieles ist schon bekannt. Ich kenne Leserinnen, die noch mit 16 Fantasy-Serien verschlungen haben und jetzt Germanistik studieren.
Sie sprechen Fantasy an. Ein beträchtlicher Teil der Literatur für Jugendliche stammt aus diesem Genre. Wie erklären Sie sich das?
Die sogenannt realistische Literatur will die Jugendlichen oft belehren und zu besseren Menschen erziehen. Dagegen wehren sich diese, indem sie andere Bücher suchen – in denen man anhand der Konflikte der Figuren selbstständig über existenzielle Fragen nachdenken kann. Ein weiterer Grund für die Fantastik-Faszination: Es geht immer um die ganz grossen Fragen, Gut und Böse, Leben und Tod, Liebe und Leidenschaft. Das finden Erwachsene mitunter plakativ. Jugendliche aber wollen sich genau an diesen Themen abarbeiten. Man beobachte nur, wie Gespräche am Familientisch innert Minuten in Grundsatzdiskussionen münden. Und was Fantasy für Jugendliche auch so anziehend macht: Sie lernen dort etwas, aber die Erwachsenen kontrollieren es nicht.