16.06.2021

Magische Momente

Pop-up-Bücher beeindrucken ihre Leser seit Generationen mit plastischen, dreidimensionalen Bildern. Paper Engineers wie Maike Biederstädt widmen sich der diffizilen Kunst der Papierkonstruktion, die sowohl künstlerische Fertigkeiten als auch räumlich-mathematisches Verständnis erfordert.
 
Seit Langem begeistern Pop-up-, Aufklapp- und Ziehbilderbücher vor allem Kinder mit dreidimensionalen, sich bewegenden und bewegbaren Elementen. Das erste Buch dieser Art soll bereits im Jahr 1240 von einem Mönch hergestellt worden sein. Es enthielt Drehscheiben, mit denen sich Feiertage berechnen liessen. Es folgten Anatomiebücher mit Klappen sowie Astronomiebücher und Bücher über Perspektive. Seit dem späten 18. Jahrhundert gibt es Druckwerke mit beweglichen Elementen für unterhaltende Zwecke.

Für 2-to-Tango gestaltet Maike Biederstädt schon seit einigen Jahren Grusskarten.
© Maike Biederstädt
 

Im 19. Jahrhundert perfektioniert
Perfektioniert wurde das (Kunst-)Handwerk im 19. Jahrhundert durch den Münchner Lothar Meggendorfer. Nachdem seine Werke lange Zeit nur einem kleinen Leserkreis bekannt gewesen sind, ist heute ein Award nach ihm benannt. Der Meggendorfer-Preis wird von der Movable Book Society an jenen Papieringenieur vergeben, der in den jeweils letzten zwei Jahren das herausragendste Pop-up-Buch veröffentlicht hat.
 
Maike Biederstädt war mit dem Werk «Wunderwesen aus der Tiefe» 2018 Finalistin beim Meggendorfer Award. «Im vergangen Jahr erschien dann mit ‚Was schlüpft aus dem Ei?’ das erste Buch, das ich nicht nur paper-engineert, sondern auch selbst geschrieben und illustriert habe. Es stellt mit sechs Pop-ups die Vielfalt der Tiere vor, die aus einem Ei schlüpfen», erzählt sie. Im kommenden Herbst erscheint ihr Pop-up-Buch «Das Wetter», in dem grosse Wetterszenen dargestellt werden.
 
Eine Welt tut sich auf
Nach dem Studium der bildenden Kunst bekam Biederstädt zufällig das Buch «The Dwindling Party» von Edward Gorey und dem Papieringenieur Ib Penick in die Hand und war sofort begeistert von der Kunst der Papierkonstruktion. «Ich fand das absolut phantastisch. Das Auffalten ist so ein magischer Moment, wenn sich zwischen zwei Buchseiten eine ganze Welt vor einem auftut.»
 
Der aus Dänemark stammende Ib Penick entwarf mehr als 130 Kinderbücher und gilt als der kreative Kopf hinter dem Wiederaufleben von Pop-up-Kinderbüchern in den 1960er- und 1970er-Jahren. In einem Interview im Jahr 1984 brachte er die Arbeit eines Papieringenieurs mit wenigen Worten auf den Punkt: «There are only about 100 folds and tricks to trade. It's like playing a piano. You have only a certain number of keys, but it's the combinations that make the difference.» («Es gibt es nur etwa 100 Faltungen und Tricks zu erlernen. Es ist wie beim Klavierspielen. Man hat nur eine bestimmte Anzahl von Tasten, aber es sind die Kombinationen, die den Unterschied ausmachen.»)
 
Inspiriert von «The Dwindling Party» realisierte Maike Biederstädt neben ihrer damaligen Arbeit als künstlerische Assistentin ihr erstes Buchprojekt. Es wurde zwar nicht publiziert, sie lernte dabei aber die Fertigkeiten des Paper Engineering. «Man braucht nicht nur eine kreative Begabung, sondern auch ein räumliches Verständnis sowie mathematisches und technisches Wissen, damit sich die Papierkreationen dann auch wie gewünscht entfalten können.» Darüber hinaus müsse man sehr genau arbeiten. Tue man das nicht, könne das in der Folge zu Schwierigkeiten bei der Produktion führen.
 


Ein prominenter Kunde der Papieringenieurin ist das Museum of Modern Art in New York. Im Bild die aktuelle Cardinal Birdhouse Holiday Card.
© Maike Biederstädt

Lange Vorlaufszeiten
Pop-up-Projekte hätten aber nicht nur wegen des präzisen Arbeitens – inklusive mehrerer Kontrolldurchläufe – eine entsprechend lange Vorlaufzeit. Auch der aufwändige Herstellungsprozess (etliche Produktionsschritte erfolgen in Handarbeit) und Transportwege (oft wird in China produziert, wo Papierhandwerk eine lange Tradition hat) seien zu berücksichtigen.
 
Nach der Fertigstellung ihres ersten Projekts machte sich Biederstädt schliesslich 2009 als Papieringenieurin selbständig und designt seitdem nicht nur Pop-up-Bücher (so eine ganze Serie von robust konstruierten Büchern für Kleinkinder), sondern auch Pop-up-Karten und Pop-up-Werbematerialien. Besonders die Gestaltung von Karten bot ihr sehr schnell die Möglichkeit, nicht nur eigene Ideen, sondern auch eigene Illustrationen umzusetzen.

Für 2-to-Tango gestaltet Maike Biederstädt schon seit einigen Jahren Grusskarten.
© Maike Biederstädt
 

Mit dem «Grusskarten-Oscar» ausgezeichnet
So entwarf sie für 2-to-Tango mit Sitz in London eine Serie von Popup-Grusskarten mit Schmetterlingsmotiven, für das Museum of Modern Art in New York kreiert sie seit sechs Jahren Popup-Karten für die MoMA-Holiday Cards Collection. «Die Weihnachtskarte ‚Shimmering Snowflake’ wurde 2016 sogar mit dem ‚Grusskarten-Oscar’, dem renommierten Louie Award ausgezeichnet», sagt Maike Biederstädt mit sichtlichem Stolz. «Und die neue Karte ‚Cardinal Birdhouse’ wurde 2020 zum Bestseller.»
 
Ihr ganz spezielles Wissen gibt Maike Biederstädt auch an andere weiter. Zum einen veranstaltet sie Pop-up-Workshops, zum anderen unterrichtet sie an der Akademie für Illustration und Design (AID) in Berlin. «Ich leite an der AID einen Kurs, der über ein Semester läuft und wöchentlich stattfindet. Man bekommt einen guten Eindruck, aber danach ist man nicht fertig ausgebildet. Viele Paper Engineers haben ein Kunst- oder Designstudium absolviert und sich dann spezialisiert.»