07.10.2021

Haute-Couture-Bücher aus dem Steidl Verlag

Gerhard Steidls Leidenschaft sind Bücher. Sie sind sein Hobby und seine Arbeit gleichermassen. Internationale Künstler reissen sich darum, mit Steidl ein Buch zu produzieren. Zusätzlich zu den Büchern werden in Göttingen schöne Drucksachen für internationale Marken auf der ganzen Welt hergestellt.

Wer in der deutschen Universitätsstadt Göttingen in der Düsteren Strasse unterwegs und nicht ortskundig ist, wird es kaum glauben: Hinter der unauffälligen Fassade der Hausnummer 4 hat sich der Verleger und Drucker Gerhard Steidl eingerichtet, der im Bereich der Fotografie- und Kunstbücher zu den Besten der Welt gehört. Anlässlich seines 70. Geburtstags schrieb die renommierte «Frankfurter Allgemeine Zeitung»: «Niemand auf der Welt druckt schönere Bücher als Gerhard Steidl.»

Eng ist es auf den vier Etagen des Gebäudes, überall wird konzentriert gearbeitet, und man kommt beim Betrachten der zurückliegenden und aktuellen Arbeiten aus dem Staunen nicht heraus. Das Unternehmen mit etwa 40 Angestellten gleicht einer Manufaktur – wobei Steidl grossen Wert darauf legt, immer auf dem aktuellen technischen Stand zu sein. «Meine Leidenschaft sind Bücher. Das ist mein Hobby und meine Arbeit zugleich. Zusätzlich zu den Büchern produzieren wir schöne Drucksachen für Kunden auf der ganzen Welt», sagt Gerhard Steidl.

Literatur und ausgesuchte Kunst zwischen Buchdeckeln
160 bis 170 Bücher – hauptsächlich Fotografie und zu einem geringen Teil Architektur sowie bildende Kunst – und rund 50 literarische Titel erscheinen jährlich im Steidl Verlag. Alle Titel werden im eigenen Haus gedruckt. «Ich nenne unsere Bücher auch Haute-Couture-Bücher, denn es ist ein individueller Prozess, der von mir von Anfang bis Ende beaufsichtigt wird.» Das macht letztlich auch den Ruf des Verlages aus. Und der kommt nicht von ungefähr – denn an die 2000 Fotografen fragen jedes Jahr bei Steidl an, ob er mit ihnen ein Buch macht.

Der Alchemist im Drucksaal
Steidl, der als Jugendlicher zunächst eine Laufbahn als Fotograf anstrebte, orientierte sich von Kamera und Dunkelkammer bald in Richtung Reproduktion und Druck um. «Ich entschied mich dazu, für Künstler zu arbeiten. Von Beginn an habe ich versucht, den Künstlern, die mir ihre Arbeit anvertrauen, auf Augenhöhe zu begegnen. Das heisst, ich wollte ihre Ideen verstehen und begreifen, wie sie es in einer Drucksache oder einem Buch umgesetzt haben wollen. Dann habe ich im Hintergrund so lange gearbeitet und experimentiert, bis ich der Meinung war, dass es dem entsprechen könnte, was der Künstler möchte.» 

Darüber hinaus ist er ein absoluter Perfektionist: Mit speziellen Reproduktionsverfahren wie etwa Duotone, Tritone und Quadrotone, die für viele Druckereien zu aufwändig sind, treibt er die Brillanz seiner Bücher auf die Spitze. Er experimentiert ständig mit Papieren, Lacken, Ölen und Farben und übernimmt dabei die Rolle des Alchemisten im Drucksaal.


Gerhard Steidl, bei der Arbeit immer im weissen Kittel, in seinem Büro.

Arbeit mit renommierten Künstlern
Seine ersten Sporen verdient er sich 1968 bei der Produktion von Plakaten für Klaus Staeck im Siebdruck. Klaus Staeck ist auch Autor des ersten Buches, das Steidl herausgibt. Es trägt den Titel «Befragung der documenta» und erscheint 1972 anlässlich der Kasseler Kunstausstellung. Eine weitere prägende Erfahrung ist die Arbeit mit Joseph Beuys, dessen Multiples – Erscheinungsform der Kunst in den 1960er-Jahren – und Druckgrafiken Gerhard Steidl ebenfalls im Siebdruck und anderen künstlerischen Drucktechniken herstellt.

1986 veröffentlicht der Schriftsteller und Künstler Günter Grass sein erstes Buch bei Steidl: «In Kupfer, auf Stein». Steidl hat den Künstler Grass in einer Ausstellung entdeckt, sich gewundert, dass es keine Bücher über das grafische Werk gibt. Grass' Hausverlag ist nicht daran interessiert, und so beginnt die fast 30-jährige intensive Zusammenarbeit von Steidl und Grass, die bis zum Tod des Autors im Jahr 2005 andauert. 

Natürlich wird das Werk von Grass bei Steidl seither weiterhin gepflegt. Seit 1992 erscheint auch Grass’ literarisches Werk im Steidl Verlag, 1993 übernimmt der Verlag die Weltrechte am Werk des Autors – sechs Jahre vor dem Nobelpreis. «Von seinem ersten Buch an hat Günter Grass immer auf die Gestaltung Einfluss genommen, Schrifttypen ausgewählt, Papiere ausgesucht, mit Setzern und Buchgestaltern zusammengearbeitet, Buchumschläge gestaltet. Diese Möglichkeiten hat er hier vorgefunden. Er war regelmässig bei uns, und wir haben hier intensiv gearbeitet», berichtet Gerhard Steidl.

Besondere Beziehung zu Karl Lagerfeld
Auch der berühmte Modeschöpfer Karl Lagerfeld überzeugt er mit seiner kompromisslosen Qualität. Er erstellt 1993 Probedrucke von Fotografien des Modeschöpfers, schickt sie nach Paris und bietet an, einen Bildband zu verlegen. Lagerfeld ist begeistert. Der Bildband erscheint unter dem Titel «Off the Record». Über die Jahre verbanden die beiden vielfältige verlegerische Aktivitäten sowie regelmässige Auftragsarbeiten für das Modehaus Chanel. Zum Tod von Lagerfeld im Jahr 2019 verfasst Steidl für die deutsche Zeitschrift «Vogue» einen Artikel, in dem er die besondere Beziehung zu dem legendären Modemacher schildert.

Eine Vielzahl weiterer Künstler und Fotografen aus aller Welt vertraut dem Drucker und Verleger ihre Arbeiten an. Oft sind sie in Göttingen vor Ort, manchmal über Wochen oder auch Monate hinweg, um das Werden ihrer Werke mitzuverfolgen und zu begleiten.


Abmusterung eines gezogenen Druckbogens des Chanel-Magazins.

Offsetdruck als erweitertes Fotolabor
Seit Anfang der 1980er-Jahre druckt Steidl im Offsetverfahren. Fast die gesamte Produktion läuft heute auf einer Sechs-Farben-Bogenoffsetdruckmaschine. Die Maschine in der Formatklasse 70 x 100 cm ist an sieben Tagen der Woche rund um die Uhr in Betrieb. Zusätzlich gibt es eine Zwei-Farben-Druckmaschine im Format 50 x 70 cm, auf der alle Buchumschläge und kleinformatige Druck-Erzeugnisse entstehen. «Den Offsetdruck habe ich für mich so definiert, dass er mein erweitertes Fotolabor ist. Ich habe Offsetdruckmaschinen immer auch als Mittel betrachtet, mit denen ich künstlerische Ideen in einem Reproduktionsprozess umsetzen kann. Mich hat immer die Interpretation interessiert, die Möglichkeit, die der Druck bietet, um den Künstler zu unterstützen», sagt Gerhard Steidl.

Offsetdruck bei Steidl ist weitgehend eine Produktion jenseits genormter Branchenstandards. Zum Beispiel druckt das Unternehmen die zahlreichen Schwarz-Weiss-Fotobände typischerweise im Quadroton-Verfahren – wobei Gerhard Steidl in Abstimmung mit dem, was der Künstler ausdrücken will, etwa ein Schwarz und drei verschiedene Grau oder zwei Schwarz und zwei Grau wählt. Ebenso werden zur Erzielung einer authentischen Bildwiedergabe oder beabsichtigten visuellen Wirkung unterschiedliche Rasterweiten oder  verfahren verwendet, Rastertechniken in hybrider Anwendung kombiniert, Papiere variiert oder gezielt Gummitücher mit bestimmten Eigenschaften eingesetzt. Die Arbeitsweise bringt es mit sich, dass auf den Druckmaschinen viel getestet und angedruckt wird. Bei rund 50 Prozent der Arbeiten gibt es mindestens einen Andruck auf der Original-Auflagendruckmaschine.

«Wir erleben gerade ein Goldenes Zeitalter»
Nachauflagen spielen wirtschaftlich eine grosse Rolle, und die umfangreiche Backlist des Steidl Verlags umfasst Titel aus fünf Jahrzehnten, die immer wieder nachgedruckt werden. Ganz oben auf der Hitliste der Nachdrucke steht im Literaturbereich «Die Blechtrommel» von Günter Grass. Von dem Roman werden jedes Jahr mehrere Zehntausend Exemplare produziert. Bei den Fotobänden ist es das 1958 erschienene Werk «The Americans» des Fotografen Robert Frank, das als Blaupause des modernen Fotobuchs gilt und regelmässige Nachdrucke erfährt.

«Was die technischen Möglichkeiten des Druckens für Zeitungen, Magazine und Bücher angeht, erleben wir gerade ein Goldenes Zeitalter», versichert Steidl, und er will auch sein umfassendes Wissen um die Buchgestaltung und -erstellung teilen. In der «Steidl Academy», die 2020 gegründet wurde, will er sein Know-how weitergeben. Und das ist wichtig, denn die Nachfrage nach Büchern aus der Düsteren Strasse 4 in Göttingen ist riesig. Zwar wird bei Steidl rund um die Uhr gedruckt, mit der Produktion kommt man trotzdem nie nach.