18.02.2021

Wir transferieren die digitale Welt in eine Printform

«Video Killed The Radio Star», sangen The Buggles 1980 – doch das Radio ist auch vier Jahrzehnte später immer noch populär. «Digital bringt Druck unter Druck», lautet das Lamento vielerorts in der grafischen Branche – doch das ist nicht ausnahmslos der Fall. Ein typisches Beispiel, wie die neue digitale Welt die Printindustrie auch beflügeln kann, ist die vom Verlag Ringier Axel Springer Schweiz vor ein paar Wochen lancierte (und natürlich gedruckte) Monatszeitschrift «Streaming». Sie ist ein Wegweiser, um im wachsenden Markt von Netflix, Sky Show, Apple TV+, Amazon Prime Video und Disney+ den Durchblick zu bewahren.

«Streaming» präsentiert jeden Monat auf 76 bis 84 Seiten die besten Serien, Filme und Dokus der wichtigsten Streaming-Plattformen – ergänzt mit Hintergrundberichten, Interviews und Star-Porträts. Ganz nach dem Motto: «Sehen, was sich lohnt.»
 
Im Hochglanzmagazin nach Perlen tauchen
«Wir verstehen unser Hochglanzmagazin als Perlentaucher, das den von den vielen Streaming-Angeboten überforderten Lesern als Ratgeber dienen soll», sagt Chefredaktor Gion Stecher. Er zeichnet im Haus Ringier auch für die fünf klassischen TV-Zeitschriften «TELE» (erscheint wöchentlich), «tvstar» (14-täglich), «TVvier» (monatlich), «TV Land&Lüt» (monatlich) und «TVtäglich» (Beilage für Tageszeitungen) verantwortlich.
 
«Wie mit klassischen TV-Zeitschriften geben wir auch den Usern von nichtlinearen Angeboten Empfehlungen ab, um sich im riesigen Angebots-Dschungel zurechtzufinden. Wir transferieren die digitale Welt in eine Printform. Unsere Leser können sich mit einem übersichtlichen, kompakten und edlen Magazin gemütlich auf dem Sofa einen Überblick über die verschiedenen Streaming-Anbieter verschaffen.»
 
Wie eine Mediathek
Das vielfältige Programmangebot in Ruhe in einem gedruckten, die haptischen Vorteile ausspielenden Magazin durchblättern statt mühsam mit der Fernbedienung auf dem Bildschirm zu zappen, ist der eine grosse Vorteil von «Streaming» – das sich diesbezüglich nicht gross von einer klassischen TV-Zeitschrift unterscheidet. Den zweiten Pluspunkt verbucht das Streaming-Magazin jedoch gemäss Gion Stecher exklusiv für sich: «Während bei TELE nach einer Woche schon die nächste Ausgabe erscheint, liegt ‘Streaming’ einen Monat lang auf dem Fernsehtischchen und ist damit so etwas wie eine Mediathek.»
 
Neben reinen Programmhinweisen finden die Abonnenten – in ihrer Mehrzahl übrigens Männer – inhaltlichen Zusatznutzen in Form zahlreicher Storys. «Unsere Inhalts-Architektur entspricht derjenigen klassischer Magazine», sagt Gion Stecher. «Allerdings sind wir in der Schweiz die einzigen, die sich voll auf Streaming konzentrieren. Wir haben damit Neuland betreten und sind immer noch dabei, herauszufinden, was unsere Leser genau wollen.


Chefredaktor Gion Stecher: «’Streaming’ liegt einen Monat lang auf dem Fernsehtischchen und ist damit so etwas wie eine Mediathek.»

E-Mail-Newsletter als aktuelles Update
Im Abo-Preis von «Streaming» – 49 Franken (rund 45 Euro) für zwölf nach Hause gelieferte Ausgaben pro Jahr, Fr. 4.90 für die Einzelnummer am Kiosk – inbegriffen ist ein einmal pro Woche verschickter E-Mail-Newsletter. «Denn aus zeitlichen Gründen ist es», so Gion Stecher, «manchmal nicht möglich, alle relevanten Hinweise im Magazin zu bringen – sei es, weil die Streaming-Anbieter Sendungen verschieben oder kurzfristig neu ansetzen. Deshalb bringen wir in unserem Online-Content unter dem Motto ‘übrigens’ wichtigste Updates. Diese nehmen wir gelegentlich in der folgenden Printausgabe als Story auf.»
 
Keine Vermischung von Journalismus und Werbung
Weil «Streaming» während eines ganzen Monats verfügbar ist, eine hohe Pick-up-Rate und einen grossen Nutzwert aufweist, erachtet Gion Stecher das neue Magazin als interessant für Inserenten. Allerdings sucht man vergebens nach bezahlten redaktionellen Beiträgen von Streaming-Anbietern. «Wir müssen und wollen unabhängig sein. Unsere Leser wollen schliesslich Qualität. Eine Vermischung von journalistischen Inhalten und Werbung wäre gefährlich.»
 
A propos Werbung: Wer im vergangenen Januar die Conference-Finals im American Football auf dem Schweizer Fenster von Pro 7 verfolgte, dem entgingen die «Streaming»-Reklamen nicht. «Wir setzen», so Gion Stecher, «auf einen bunten Strauss von Werbeformen: Litfass-Säulen, Spots im linearen Fernsehen, Social Media. Besonders wichtig ist auch die Mund-zu-Mund-Propaganda, wenn uns zufriedene Abonnenten Freunden weiterempfehlen.»
 
«Was können sie mir heute empfehlen?»
«Perlentaucher» ist das eine Bild, das Gion Stecher für die neuste Innovation aus dem Haus Ringier Axel Springer Schweiz verwendet – «Menükarte» das andere. «Sie essen ja im Restaurant auch nicht immer Schnitzel mit Pommes, sondern fragen den Küchenchef: ‘Was können sie mir heute empfehlen?’»
 
Das Zielpublikum von «Streaming» sind die 35- bis 65-Jährigen. «Jüngere sind – ich sehe das bei meinem 18-jährigen Patenkind – schwieriger zu erreichen. Zum einen sind sie nicht sehr printaffin, und zum andern wollen sie für Content nicht bezahlen», sagt Gion Stecher.
 
Ein Phänomen, das Gion Stecher übrigens auch bei klassischen TV-Magazinen beobachtet: «Deren Stellenwert ist immer noch recht gross. Zwar sinkt die Bedeutung des linearen Fernsehen, und die Leserschaft von Fernsehzeitschriften wird – wie auch bei vielen anderen Printprodukten – älter. Aber diese ist bereit, für einen wertvollen Ratgeber zu bezahlen. Bei der jüngeren Generation herrscht jedoch eher eine Gratismentalität.»
 
Lancierung während des Lockdowns war Zufall
Zwar gelten Netflix & Co. gemeinhin als Gewinner der Corona-Pandemie, weil die Leute weltweit nicht mehr ausgehen können und deshalb länger vor dem Fernseher sitzen. Dass «Streaming» mitten im zweiten Lockdown lanciert wurde, ist laut Gion Stecher jedoch Zufall. «Wir wollten das Magazin bereits in Frühjahr 2020 auf den Markt bringen, haben es dann aber wegen der Corona-Krise verschoben und während der folgenden Monate weiterentwickelt.»
 
Zwar ist auch der versierte Kenner der TV-Szene überzeugt, «dass Streaming während der Pandemie an Bedeutung gewonnen hat. Nichtlineares Fernsehen ist aber schon vor Corona populär gewesen, und die Zunahme ist nicht massiv. Insofern hat Corona auch keinen Einfluss auf den Erfolg oder Misserfolg unseres Magazins.»
 
«Ernsthaft, eine Fernsehzeitschrift für Netflix?»
War die Lancierung von «Streaming» während der Corona-Pandemie Zufall, so erfolgte auch das nahezu zeitgleiche Zusammentreffen mit dem Launch eines gleichnamigen Magazins in Deutschland zufällig. Dieses wird von der Funke Mediengruppe herausgegeben, erscheint vierteljährlich – und fand damit sogar bei der renommierten deutschen Wochenzeitschrift «Zeit» ein anerkennendes Echo.
 
«Ernsthaft, eine Fernsehzeitschrift für Netflix?», betitelte sie zwar ihre Story über die neue Programmzeitung für Streaming-Portale. «Das ist gar nicht so absurd, wie es auf den ersten Blick wirkt», relativierte Autor Johannes Schneider die provokative Fragezeichen-Headline jedoch gleich eingehend in seinem Artikel.
 
Wo er recht hat, hat er recht.