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09.04.2021

Wenn mitten in der Pandemie eine gedruckte (Schach-)Zeitschrift lanciert wird

Weil wegen der Corona-Krise die Schachklubs nahezu überall geschlossen sind und seit Monaten kaum Turniere an Brettern stattfinden, hat sich das weltweite Geschehen auf den 64 Feldern nahezu vollständig auf digitale Plattformen ins Internet verlagert. Da braucht es Mut, mitten in der Pandemie eine gedruckte Schachzeitschrift zu lancieren. Diesen Mut hatte Fabrice Hodecent, der in Frankreich vor Kurzem die erste Ausgabe von «Route 64» herausbrachte – eine klebegebundene und edel daherkommende Zeitschrift, die der Chefredaktor wegen der Mischung aus Magazin und Buch als «Mook» bezeichnet.
 
Fabrice Hodecent ist überzeugt, dass ein auf Papier erscheinendes Magazin trotz der mit der Verlagerung des Schachgeschehens ins World Wide Web verbundenen digitalen Konkurrenz seine Berechtigung in der heutigen Medienlandschaft hat: «Gegen ein Produkt dieser Qualität kann Digital nicht ankommen.»
 
Klebegebunden mit Müller Martini
Das Projekt von «Route 64» begann vor 18 Monaten auf Initiative von drei Partnern. Jérôme Houdin ist der aktivste Schachspieler des Trios. Er wird von Fabrice Hodecent als «wandelndes Schach-Lexikon» beschrieben. Die anderen beiden, Gérald Gontier und Fabrice Hodecent, spielen zwar auch regelmässig Schach, gehören aber keinem Verein an.
 
Zusätzlich zu den drei Gesellschaftern hat «Route 64» zwei weitere Mitarbeiter: eine Grafikdesignerin (Emilie Sicot) und einen Webmaster (Guillaume Néel). Gedruckt wird das Magazin bei der Imprimerie Offset 5 Édition  in Les Achards in der Vendée, wo mit einem Acoro und einem Monostar gleich zwei Klebebinder von Müller Martini im Einsatz stehen.

«Wir müssen etwas bieten, das sich abhebt»
Hat Papier in der heutigen Situation – sprich mit der Entwicklung digitaler Technologien, die mit der Corona-Pandemie zusätzlich Fahrt aufgenommen hat – überhaupt noch einen Platz? «Ja», sagt Fabrice Hodecent, «in Frankreich werden jedes Jahr neue Zeitschriften herausgebracht. Aber wir müssen etwas bieten, das sich abhebt.»

Mit seinen 128 Seiten definiert sich «Route 64» als «Mook» – ein Wortspiel aus Magazin und Buch. «Es ist mehr als ein Magazin, und ein digitales Medium kann mit einem Produkt dieser Qualität nicht mithalten», ist Fabrice Hodecent überzeugt.
 
Vor der Markteinführung wurden sieben verschiedene Konzepte entwickelt. Die erste Ausgabe kam im vergangenen Januar heraus. Im laufenden Jahr erscheint das Magazin dreimal, 2022 sollen es dann vier Ausgaben sein.

Ein Schach-Reiseführer
Die einzige andere Schachzeitschrift in Frankreich ist «Europe Échecs», die seit mehr als 60 Jahren existiert und deren Inhalt laut Fabrice Hodecent sehr technisch, da partienlastig ist. «Die französische Schachpublikations-Landschaft ist also eher dürftig. Deshalb hatten wir die Idee, ein Periodikum zu entwickeln, das sich an ein breites Publikum wendet und mit Porträts, Reportagen, Chroniken und schönen Fotos hinter die Bühne der Schachwelt blickt.»
 
Mit «Route 64» reisen – die Anspielung auf die berühmte Route 66 in den USA ist augenfällig – die Leser durch ein Schachland. «Unsere Reise geht dorthin», unterstreicht Fabrice Hodecent, «wo andere Publikationen nicht oder nicht mehr hingehen. Wir bereisen den Schachplaneten diagonal und nehmen dabei meist Nebenstrassen.»
 
Dieses Interesse an der Welt des Schachs im weitesten Sinne kommt im Untertitel der Zeitschrift zum Ausdruck: «Chess Outside the Box». Fabrice Hodecent: «Wir konzentrieren uns auf das Leben des Schachs – einschliesslich künstlerischer, philosophischer und psychologischer Aspekte.»

 «Route 64» wird beim französischen Müller Martini-Kunden Imprimerie Offset 5 Édition produziert.

Für Enthusiasten und Amateure
Die Zeitschrift richtet sich an zwei Zielgruppen: an Schach-Enthusiasten, die etwas anderes als nur Partien entdecken wollen, und an Amateure, die sich für die Welt des königlichen Spiels interessieren.
 
Bekommt «Route 64» Unterstützung aus der Schachwelt? «Ja», sagt Fabrice Hodecent, «Jérôme Houdin kennt viele Leute. Wir haben also zahlreiche Kontakte und profitieren von der Unterstützung vieler Spieler – auch von den meisten französischen Cracks. Sie freuen sich, dass wir uns dafür interessieren, was sie erleben.»
 
Und wie kommen Interessenten zu «Route 64»? Für ihre Werbung setzen die Initianten einen digitalen Kanal ein, erfolgt die Bestellung doch primär über die Website. «Unser Magazin ist ein Nischenprodukt», so Fabrice Hodecent. «Deshalb ist es für uns unmöglich, an Verkaufsstellen wie etwas Kiosken präsent zu sein. Doch wir sind auch in einigen Buchhandlungen zu finden.»
 
Abstecher ins Ausland
Ziel von «Route 64» ist, sich in der gesamten französischsprachigen (Schach-)Welt zu etablieren. Deshalb wirft das Magazin auch mal einen Blick über die Landesgrenzen Frankreichs in die Nachbarländer hinaus. So wird die zweite Ausgabe dieses Jahres weitgehend der Schweiz gewidmet sein! «Ich habe dort ein paar Sachen entdeckt, die wir in Frankreich nicht kennen – wie einen Seniorenverband für über 60-Jährige und private Schachschulen», sagt Fabrice Hodecent. In der Ausgabe 3/2021 wird dann eine Tour durch Belgien zu finden sein.
 
Ziel: 3000 Abonnenten nach drei Jahren
Von der ersten «Route 64»-Ausgabe wurden bisher 400 Exemplare verkauft. «Die Zahl der Abonnenten steigt täglich», sagt Fabrice Hodecent. «Ziel ist es, bis Ende 2021 700 und nach drei Jahren 3000 Abonnenten zu erreichen. Damit könnte unser Unternehmen leben und wir unseren Lebensunterhalt verdienen. Zurzeit erhalten die drei Partner kein Gehalt. Denn die Einnahmen gehen vollumfänglich in die Produktion, die rund 12’000 Euro pro Ausgabe kostet.»
 
Zu Beginn des Projekts wurde ein Businessplan erstellt, der jedoch wegen der Pandemie komplett geändert werden musste. «Route 64» hat 16 Aktionäre, die in 20 Prozent des Firmenkapitals investiert haben. Zusätzlich konnten rund 200 Spender gefunden werden.
 
Im Zuge von «The Queen’s Gambit»
Für Fabrice Hodecent kam – ein Paradebeispiel, wie Digital Print beflügeln kann (siehe auch unsere Top-Story über «Streaming») – der grosse Erfolg der Netflix-Serie «The Queen’s Gambit» genau zum richtigen Zeitpunkt. Denn sie ermöglichte es einem grossen Publikum von Nichteingeweihten, die Schachszene zu entdecken. «’The Queen’s Gambit’ war für uns aus werbetechnischer Sicht ein Segen – auch wenn es schwer zu sagen ist, inwieweit wir davon profitiert haben», frohlockt Fabrice Hodecent. «In den Fachläden wurden die Regale mit Schachbüchern und Schachsets buchstäblich leergefegt.»
 
Die Ausstrahlung der Netflix-Serie über ein Mädchen, das Schachchampion wurde, kompensierte teilweise die Tatsache, dass die drei Partner wegen der Absage von Wettkämpfen als Folge der Corona-Pandemie nicht zu Turnieren fahren konnten.
 
Auch wenn das gedruckte Magazin das zentrale Projekt des Unternehmens Route 64 ist, ist es dennoch nicht das einzige Produkt des Unternehmens. Die drei Partner setzen auch auf zwei andere Geschäftsbereiche: Die Organisation von Events (Simultanveranstaltungen und Partys) sowie Aktivitäten, die auf Schach basieren, um Geschäftsstrategien zu entwickeln.