01.03.2022 / Knud Wassermann

Papiermarkt ausser Rand und Band

Bereits im vergangenen Jahr kam es zu einer unübersichtlichen Gemengelage, welche die Preise für Papier, Karton und Wellpappe durch die Decke gehen liess. Eine Entspannung ist nach wie vor nicht in Sicht. Ich habe mich auf die Suche gemacht, wie es zu diesen Turbulenzen am Papiermarkt gekommen ist.

Von allen Personen, die beruflich mit Papier und Karton zu tun haben (Hersteller, Grosshändler, Druckereien, Agenturen und Werbetreibenden), hört man unisono ein und dasselbe: «So etwas habe ich in meiner Berufslaufbahn noch nicht erlebt.» Einer davon ist Kurt Kribitz, Vorstand der Styria Media Group, der von einer erheblichen Preiserhöhung um die Jahrtausendwende berichtet, die aber bei weitem nicht so drastisch ausgefallen sei. Die hielt auch nicht sehr lange an, und letztlich kam es zu einer ebenso starken Abwärtsbewegung. Kribitz rechnet trotz anderer Rahmenbedingungen, dass es über kurz oder lang wieder zu einer Normalisierung am Papiermarkt kommen werde. Bis dahin wird es allerdings noch etwas dauern. 

Plötzlich war die Nachfrage grösser als das Angebot 
Im letzten Jahr braute sich am internationalen Zellstoff- und Papiermarkt einiges zusammen, was zu den exorbitanten Preissteigerungen führte. Papierfabriken wurden, wie langfristig geplant, für die Produktion von Karton oder Wellpappenrohpapieren umgerüstet. Gleichzeitig wurden im ersten Lockdown die Kapazitäten massiv zurückgefahren und nach dem Ende nicht schnell genug wieder hochgefahren. Die Wirtschaft erholte sich rascher als erwartet – und so war plötzlich die Nachfrage grösser als das Angebot. 

In der Wirtschaftswissenschaft wird in diesem Zusammenhang von einem Peitscheneffekt gesprochen – nur: Dass der so lange anhält, damit hat wohl niemand gerechnet. Natürlich haben auch einige Unternehmen begonnen, Papier zu horten, was die Lage weiter zuspitzt. Aktuell, so ist aus dem Papierhandel zu hören, wird ohnehin alles gekauft, was zu bekommen ist. Da in Nordamerika noch höhere Preise erzielt werden, geht trotz gestiegener Frachtkosten von Europa aus auch einiges in den Export.

Explodierender Gaspreis und ein Streik
Ein Argument der Papierindustrie, das nicht von der Hand zu weisen ist, sind die Energiekosten – und hier vor allem die Gaspreise, die explodiert sind. Der von der Österreichischen Energieagentur berechnete Gaspreisindex (ÖGPI) lag im Januar 2022 im Vergleich zum Januar 2021 um 600 Prozent höher! 

Die aktuelle geopolitische Konfrontation ist sicherlich mit ein Preistreiber. Die Angst ist gross, dass die Versorgungssicherheit bei Gas in Europa verloren gehen könnte. «Ein Blick auf den aktuellen Drei-Monats-EUWID-Papierpreisindex zeigt, wie sich die gestiegenen Gas- und Stromkosten schon auf den Papierpreis durchgeschlagen haben», betont Alexander Frommer, der bei der Mediaprint für die Druckstandorte in Wien, Salzburg und St. Andrä in Österreich verantwortlich zeichnet.

On top wurden seit Jahresanfang die UPM-Werke in Finnland bestreikt, was speziell die Verfügbarkeit von LWC- und MWC-Papieren, die vor allem für die Magazin- und Katalogproduktion zum Einsatz kommen, drastisch verschlechterte. Dem Streik schlossen sich dann auch noch die Hafenarbeiter an, sodass gar nichts mehr ausgeliefert wurde. In der ersten Februar-Woche kam es wenigstens mit den Hafenarbeitern zu einer Einigung. Der Streik in den UPM-Werken wurde jedoch bis zum 13. März verlängert.

Andere Branchen entdecken die Nachhaltigkeit von Zellstoff
Im Zuge der gesamten Nachhaltigkeitsdiskussion wird Zellstoff aber auch zu einem sehr begehrten Rohstoff. Beispiele dafür gibt es genug: Die Verpackungsindustrie versucht, wenn möglich, Kunststoff durch Karton zu ersetzen, und auch die Textilindustrie entwickelt gewisse Begehrlichkeiten in Bezug auf den nachhaltigen Rohstoff. 

Wann es zu einer Entspannung kommen wird, kann im Moment niemand sagen. Wenn überhaupt, soll es im zweiten Halbjahr 2022 zu einer Stabilisierung der Preise kommen. Aktuell sei der Nachfrageüberhang einfach zu gross, versicherte mir ein Branchenkenner. Wenn überhaupt, soll sich die Lage frühestens 2023 etwas entspannen.

Prüfungen von EU-Kommission eingeleitet
Aufgrund der Situation am Zellstoff- und Papiermarkt hat die Europäische Kommission bereits im vergangenen Oktober kartellrechtliche Prüfungen bei verschiedenen Zellstoffproduzenten im skandinavischen Raum eingeleitet. Unangekündigte Prüfungen sind ein erster Schritt in einer Untersuchung mutmasslicher wettbewerbswidriger Praktiken wie Preisabsprachen oder Kartellbildung. Solche Überprüfungen bedeuten weder dass sich die Unternehmen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens schuldig gemacht haben, noch dass die Kommission dem Ergebnis der eigentlichen Untersuchung vorgreift, versicherte die Wettbewerbsbehörde. 

Da noch kein Ergebnis vorliegt, scheint die Kommission die Prüfungen noch nicht abgeschlossen zu haben. «Die Art und Weise des Marktauftritts der Papierindustrie ist befremdlich. Partnerschaft sieht anders aus.» Kurt Kribitz spricht hier gerade bei den Herstellern von Zeitungsdruckpapieren von einem Oligopol, in dem wenige Hersteller den Markt dominieren.

Die aktuelle Situation wirft natürlich Fragen auf, die einerseits das System der Globalisierung, andererseits die Philosophie der Just-in-Time-Lieferung infrage stellen. Jetzt wird schlagartig deutlich, wie fragil die weltweite Lieferkette und die ihr zugrunde liegenden Handelsbeziehungen sind. Insofern wird die Lagerhaltung in Zukunft wieder eine grössere Rolle spielen, und der Papiergrosshandel wird wieder stärker seine Funktion als Puffer zwischen Herstellern und Produzenten wahrnehmen.

Der berühmte Ast, auf dem beide sitzen
Die Sache ist ziemlich verfahren. Denn Druckereien können nicht so ohne Weiteres die Preiserhöhungen eins zu eins an ihre Kunden weitergeben. Da gibt es längerfristige Verträge – etwa bei Periodika oder Schulbüchern. Die vielfältigen Ursachen zeigen aber auch, dass es keine einfache Lösung für die aktuelle Situation gibt. Allerdings scheint die Angst berechtigt zu sein. Wenn Printprodukte nicht mehr verabredungsgemäss und verlässlich geliefert werden können, verstärkt das den Trend zur Online-Kommunikation. 

Bei REWE Austria, einem der grossen Lebensmittelhändler in der Alpenrepublik, haben die steigenden Papierpreise noch keinen direkten Einfluss auf die Kommunikationsstrategie. Die allgemeine Mediastrategie werde aber laufend hinsichtlich Effizienz und Effektivität analysiert und validiert. Schwerwiegender als die Preissituation wirke sich die unsichere Versorgungslage und damit die laufende Verfügbarkeit von Papier aus.

«An Print im gesamten Mediamix kommt man nicht vorbei»
Dieser Sichtweise stimmt auch der Pressesprecher der XXXLutz-Unternehmensgruppe, Mag. Thomas Saliger, zu und formuliert das «Schreckgespenst» der grafischen Industrie: «Als Unternehmen muss man sein werbliches Engagement überdenken und zusätzlich vermehrt auf digitale Kanäle setzen.» 

Stephan Reyer von der Porsche Media & Creative GmbH in Salzburg berichtet davon, dass im Rahmen des ersten Lockdowns und den damit verbundenen Einsparungen zwei Kundenmagazine komplett eingestellt und bei anderen die Erscheinungsfrequenz reduziert worden ist. Um die Markenpräsenz hochzuhalten und weiter auszubauen, komme man aber an Print im gesamten Mediamix nicht vorbei, betont Stephan Reyer.

«Leider verliert Print an Flexibilität»
Trotz aller Verwerfungen am Papiermarkt lassen sich längerfristig geplante Aktivitäten sehr gut umsetzen. Problematischer werde es allerdings bei kurzfristig angelegten Aktionen, wie etwa Beilagen in einer Auflage von mehreren Millionen Exemplaren. Das ist bei der aktuellen Verfügbarkeit von Papier, mit Lieferzeiten von sechs Monaten und mehr, sowohl organisatorisch als auch preislich nur schwer machbar. «Dadurch verliert Print leider sehr viel an Flexibilität», sagt Stephan Reyer.

Welche Mengen an Papier für die Produktion von Beilagen benötigt werden, wurde mir beim Lesen eines Artikels auf der Müller Martini-Website über die deutsche Rollenoffsetdruckerei Fr. Ant. Niedermayr deutlich. An Spitzentagen werden bis zu 350 Tonnen Papier bedruckt. Über das Jahr kommt da was zusammen!

Eingeschränkte Flexibilität
Print läuft jetzt Gefahr, zu einem unkalkulierbaren Kanal zu werden. Das schadet beiden Seiten – den Herstellern von Druckprodukten genauso wie den Papierlieferanten. Es geht wieder einmal um den berühmten Ast, auf dem beide sitzen. Die Papierindustrie hat ja gerade in den letzten Jahren viel Geld in die Hand genommen, um auf die Wertigkeit von Print im Media-Mix zu verweisen und hat in zahlreichen Kampagnen gezielt die Vorteile gedruckter Kommunikation hervorgehoben. Man kann nur hoffen, dass sich diese Ausgaben nicht als «Stranded Investment» erweisen.

Die Werbetreibenden und Medienmacher verweisen darauf, dass Print nach wie vor als Kanal funktioniere und man weiter auf ihn setzen wolle. Die aktuelle Verfügbarkeit schränke Print jedoch in seiner Flexibilität enorm ein, was die Tendenz zur Digitalisierung weiter anheizen werde.

Ihr
Knud Wassermann, 
Chefredakteur «Graphische Revue»

Sehen Sie in diesem TV-Beitrag des Bayrischen Fernsehens, welche Auswirkungen die Papierkrise auf den deutschen Müller Martini-Kunden Onlineprinters in Neustadt an der Aisch hat. 
 
01.03.2022 Knud Wassermann Chefredaktor «Graphische Revue»