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18.01.2022 / Christine Tresch

Lesen analog und digital – Gedanken aus der Leseförderung

Die Digitalisierung verändert den Alltag von Kindern und Jugendlichen – auch was ihre Lektüren betrifft – und lässt das Buch als schönes Objekt neu aufleben.

Der mediale Alltag von Kindern und Jugendlichen hat sich in den letzten 40 Jahren grundlegend verändert. Als ich zur Schule ging, waren Kasperli-Kassetten die ersten Geschichten-Begleiter im Kinderzimmer, dazu kam die Kinderstunde im Radio und das «Spielhaus» im Schweizer Fernsehen. Im Lehrerzimmer des Primarschulhauses standen grosse, braune Holzkisten der Schweizerischen Volksbibliothek, die heutige Bibliomedia, voller Bücher. Das war unsere Schulbibliothek auf Zeit.

Verlässliche Zahlen erst seit der Jahrtausendwende
Als Expertin für Kinder- und Jugendliteratur werde ich immer wieder gefragt, ob Kinder und Jugendliche überhaupt noch lesen. Eine Frage, die suggeriert, dass wir uns noch vor wenigen Jahrzehnten im Lesehimmel befunden haben. Dabei verfügen wir erst seit der Jahrtausendwende über verlässliche Zahlen zu den Lesefertigkeiten von Kindern und Jugendlichen. Schwache oder unmotivierte Leserinnen und Leser wurden während meiner Schulzeit einfach links liegengelassen. Nach der offiziellen Schulzeit gab es für diese Jugendlichen, die kaum über solide Lesekompetenzen verfügt haben dürften, genügend Anlehren und Arbeitsplätze, wo Lesen und Schreiben keine Voraussetzung waren.

Solide Lesekompetenzen sind seither zur unabdingbaren Voraussetzung geworden für beruflichen Erfolg und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Funktionelle Analphabet(inn)en haben es auf dem Arbeitsmarkt sehr schwierig, weil an fast jedem Arbeitsplatz auch gelesen und mit dem Computer gearbeitet werden muss. 

Noch etwas anderes hat sich grundlegend verändert. Während früher die Leseförderung im deutschsprachigen Raum darauf hinzielte, aus Kindern Leserinnen und Leser zu machen, die sich der «richtigen» Literatur zuwenden, also Klassikern und Belletristik für Erwachsene, ist diese Maxime nach der ersten PISA-Studie zum Lesen im Jahr 2000 über Bord geworfen worden. Zeitschriften und Heftchen, Comics, Sachbücher, Serienliteratur, da ist man sich heute in der Leseförderung einig, gehören genauso zum Alltag von Kindern wie erzählende Kinderliteratur. Lesen lernen kann man in und mit allen Medien, die auf Schrift basieren. 

Wird das Lesen über das Internet demokratisiert?
Mit der Digitalisierung stellt sich die Herausforderung Lesen noch einmal neu. Ich nehme auf der einen Seite die Stimmen wahr, die den Niedergang der Gutenberg-Kultur beklagen, weil Kinder und Jugendliche keine gedruckten Bücher mehr lesen, sondern sich nur noch über ihre Smartphones orientieren würden. (Dass sie das immer häufiger und länger tun, zeigt die JAMES-Studie 2020 der Zürcher Fachhochschule für angewandte Künste. Schweizer Jugendliche verbrachten 2020 im Durchschnitt drei Stunden täglich an ihrem Handy, übers Wochenende fünf Stunden.) Auf der anderen Seite höre ich die Fachleute, die der Überzeugung sind, dass dank der digitalen Revolution heute so viel geschrieben und gelesen wie noch nie.

Eine Vertreterin des ersten Lagers ist die US-amerikanische Literaturwissenschafterin Maryanne Wolf, die mit ihrem Buch «Schnelles Lesen, langsames Lesen» ein Pamphlet über das Lesen von analogen literarischen Texten verfasst hat. Für Wolf ist das versinkende Lesen die Kulturtechnik schlechthin, die uns als Individuen und die Menschheit weiterbringt. 

Gerhard Lauer von der Johannes Gutenberg Universität Mainz, Vertreter der anderen Seite, ist der festen Überzeugung, dass digitale Formen zu einer Demokratisierung des Lesens führen werde. Etwas, was den Vertretern eines bildungsbürgerlichen Leseideals seit der Aufklärung nie wirklich gelungen sei.

In einem sind sich beide Seiten einige: Eine gute Lesekompetenz bleibt die Voraussetzung dafür, dass wir genussvoll Literatur lesen, uns aber auch im Internet kritisch und reflektiert bewegen können.

Lesen im gedruckten Buch
Zurzeit lese ich in gedruckter Form Amos Oz’ grossartigen autobiographischen Roman «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis». Ich halte einen Ziegelstein in den Händen. Das Haptische dieser Lektüreform geht einher mit weiteren Sinneseindrücken wie dem Geruch des Papiers. Aus der neurologischen Forschung weiss ich, dass andere Areale in meinem Kortex aktiviert werden, wenn ich analog lese, unter anderem dieselben Hirnareale, die mir auch helfen, mich im Raum zu orientieren. 

Gerade für schwächere Leserinnen und Leser ist diese räumliche Orientierung, die analoge Lektüren bieten, ganz wichtig, um sich in einem Text auch inhaltlich zurechtzufinden. Sie fehlt bei der Lektüre auf dem E-Reader – der Scrollbalken, der mir anzeigt, wie weit meine Lektüre schon fortgeschritten ist, kann das Lesen im Raum nicht ersetzten. Recherchiere ich im Internet, lese ich die Chatnachricht einer Freundin oder schaue meinem Sohn beim Computerspielen über die Schultern, um zu sehen, was für Herausforderungen ihn auf der nächsten Station seines Adventure-Games erwarten, bin ich lesend ganz anders gefordert.

Netzlektüren
Im Internet kommen mir nicht nur Schriftzeichen entgegen, es poppen auch viele visuelle Informationen auf, Bilder, Grafiken, Videos... Rasch muss ich mich entscheiden, ob ein Inhalt wesentlich und glaubwürdig ist, muss die Faktizität meiner Fundstücke einschätzen können, denn Falschinformationen nehmen hier schnell ein Eigenleben an und können ungewollt zu schwierigen Situationen führen (wie etwa die Covid-Debatte oder die Leugnung des Wahlsieges von Joe Biden in den USA).

Die Stavanger Erklärung von 2019, in der gut 100 europäische Forscher(innen) ihre Schlussfolgerungen zur Veränderung des Lesen angesichts der Digitalisierung festgehalten haben, äussert die Befürchtung, dass sich über Bildschirmlektüren schnellere, oberflächlichere Arten der Textverarbeitung durchsetzen könnten. Lernende müssten darum nicht nur Strategien vermittelt bekommen, wie sie kritisch und reflektiert auf digitalen Geräten lesen können. 

Die viel beachtete Erklärung hält auch fest, dass es für Schülerinnen und Schüler gerade in den ersten Schuljahren absolut zentral ist, weiterhin gedruckt Bücher zu lesen, um grundlegende Lesefertigkeiten zu erwerben, die auch für Lektüren im Internet unabdingbar sind. Dazu gehört auch, sich auf eine Geschichte einlassen zu können und sich nicht ständig ablenken zu lassen. Das Glück des Lesens stellt sich nicht einfach ein – wir müssen aktiv etwas dafür tun. Im Internet hingegen winken Bonifikationen rasch und fast überall.

Eine englische Studie mit 150'000 Schülerinnen und Schülern aller Altersstufen hat denn auch zutage befördert, dass vor allem Jungs dazu tendieren, literarische Texte überfliegend zu lesen und ganze Passagen auszulassen. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich dabei um längere erzählende Abschnitte handelt, die vielleicht nicht so spannend sind, und dass sich die «raschere» Lektüre wohl Dialogen entlanghangelt, die die Handlung oft vorantreiben und auch leichter zu lesen sind.

Innovativer Buchmarkt
Verlage und Autor(innen) reagieren auf dieses Leseverhalten, das sich an kurzweiligen digitalen Lektüren orientiert. Kinder- und Jugendbücher sind in den letzten 20 Jahren nicht nur viel bunter geworden, sie beinhalten auch mehr Bilder, die die Lektüre unterstützen können. Bilder sorgen für Abwechslung und vermitteln das Gefühl, dass da eigentlich gar nicht so viel gelesen werden muss. Ich stelle auch eine klare Tendenz zu Geschichten fest, die in kurzen Kapiteln erzählt werden. Dazu kommt die «bookishness» von vielen erzählenden Kinder- und Jugendbüchern auf, die sorgfältige Ausstattung mit Lesebändchen, Kaschierungen, Schnittverzierungen und Schmuckfarben auf den Covers. 

Die Verlagsbranche profitiert auch von leidenschaftlichen Leserinnen und Lesern auf Social Media wie BookTube, Bookstgram #BookTok (lesen Sie dazu den Blog von Knud Wassermann vom 8. Juni 2021) oder Wattpad. Genutzt werden diese Plattformen vor allem von jungen Frauen im Alter von ca. 12 bis 20 Jahren. Ihre Likes können einem Buch zum Bestseller verhelfen oder dazu führen, dass ein traditioneller Verlag auf eine Autorin, einen Autor aufmerksam wird und die digitale Geschichte druckt. 

Obwohl ich analog sozialisiert wurde und literarische Texte immer noch viel lieber gedruckt lese als digital, bin ich der Überzeugung, dass Polarisierungen in der Debatte rund ums analoge und digitale Lesen uns nicht weiterbringen. Als Leseförderin ist es mir ein Anliegen, dass wir Kindern und Jugendlichen die Kompetenzen mit auf den Weg zu geben, die sie für beide Leseformen brauchen – das Lesen von Geschichten, im Buch oder am Bildschirm, und den souveränen Umgang mit Informationen im Netz.

Ihre Christine Tresch, Fachfrau für Kinder- und Jugendliteratur am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM.