09.07.2024 / Melanie Gamma

Eine Bücher-Schatzkammer mitten im Dorf

In meinem Wohnort Trimbach im Kanton Solothurn in der Schweiz haben wir seit Neustem einen offenen Bücherschrank. Er steht mitten in einem Park. Gebaut hat das wetterfeste Regal eine Schulklasse. Gut erhaltene Bücher bringen, ausleihen oder behalten ist das Konzept des offenen Bücherschranks.
 
Warum ich offene Bücherschränke liebe? Weil sie Schatzkammern sind. Wertvoll sind Bücher für mich per se. Sie entführen uns auf magische Reisen, beflügeln die Fantasie, lassen uns träumen, lernen und dem Alltag entfliehen. Insbesondere vor Ferien ist es höchste Zeit, Lektüre zu organisieren. Ab in die Bibliothek, in die Buchhandlung – oder eben zu einem offenen Bücherschrank. Warum sich Letzteres besonders lohnt? Ich verrate es Ihnen.
 
Ein wahrer Bücherschatz in Irland…
Im Jahr 2010 fischte ich in Irland einen wahren Schatz aus einer Büchertruhe. Auf einer längeren Reise besuchten wir den Hook Head. Der schwarz-weiss gestrichene Leuchtturm ist der älteste noch funktionstüchtige in Europa. Fast 800-jährig ist der begehbare Turm. Er wäre ein wunderbarer Schauplatz für einen spannenden Roman. Im Innern des Bauwerks fand ich eine Holzkiste mit Büchern zum Gratis-Mitnehmen. Eines mit einem Cover in den Farben Gold, Rot und Schwarz stach mir ins Auge: «The Poet» von Michael Connelly.
 
Ich strich mit meinen Fingern durch die spröden Seiten – und verschlang den Kriminalroman in den nächsten Tagen regelrecht. «The Poet» darf 14 Jahre nach dem Irland-Trip heuer wieder mit mir auf Reisen sprich in die Ferien – weil es eines von wenigen Büchern ist, das ich ein zweites Mal lese.
 
…eine Trouvaille im Burgund…
Einen geheimnisvollen Bücherkasten entdeckte ich auf einer Velotour auch im Städtchen Arnay le Duc im französischen Burgund. Eine Holzkiste mit Glasscheibe war in eine Schlossmauer eingebaut. Ich stoppte so abrupt, dass meine Fahrradbremse quietschte – das gleiche Geräusch machte das Türchen des Bücherschränkleins. Voilà: Ich fand «Flammes de Velours» von Maurice Dekobra aus dem Jahr 1927.
 
«Très interessant» hatte jemand zuvorderst hineingekritzelt und auf den Folgeseiten mit zittriger Schrift Kommentare angebracht. Klebebänder hielten die verbleichten, müffelnden Seiten zusammen. Obwohl mein Französisch zu schlecht ist, um das Werk zu verstehen, nahm ich es mit.
 
…und ein verstaubtes Buch aus der Brockenstube
Es ist nicht das älteste Buch in meinem «Archiv». Diese «Ehre» fällt einem «hauswirtschaftlichen Volksbuch für denkende Hausväter und besorgte Hausmütter» aus dem 18. Jahrhundert aus einer Brockenstube zu. Es riecht so verstaubt wie die «Lebenstipps» darin sind. Amüsant ist das Buch, in verschnörkelter Frakturschrift verfasst, allemal.
 
Einen Ehrenplatz in meinem literarischen Fundus hat eine Ausgabe von «Der kleine Prinz» von 1950, gefunden in einer zum Bücherschrank umgebauten Telefonzelle in Guarda im Schweizer Kanton Graubünden. Der ehemalige Besitzer nutze zwei entwertete Theater-Eintrittskarten als Buchzeichen – ich habe sie im «Kleinen Prinzen» drin gelassen.
 
Geschichten zwischen zwei Deckeln
Spüren Sie meine Freude, wenn ein Buch nicht nur zwischen zwei Deckeln eine Geschichte erzählt, sondern selbst zu einer wird? Diese Faszination für Bücher hat sich auf unsere Töchter übertragen. Wir besitzen wohl so viele Bilder-, Kinder- und Erstlesebücher wie andere Familien Schuhe, Mützen oder Apps. Viele waren ein Geschenk und haben – wie «meine» vergilbten Fundstücke – für unsere Mädchen besonderen Wert. Andere waren spannend oder herzig, dürfen aber weiterziehen.
 
Wohin? Na klar: in den offenen Bücherschrank in unserer Gemeinde. Vielleicht entdecke ich dort auch bald Schätze wie in Irland oder in Frankreich.
 
Ihre
Melanie Gamma
Kommunikationsfachfrau
 
Dieser Text erschien erstmals im «Oltner Tagblatt» vom 28. Juni 2024.
 
09.07.2024 Melanie Gamma Kommunikationsfachfrau