27.08.2019 / Knud Wassermann

Bücher zur digitalen Entgiftung

Wer hätte dies gedacht? An den internationalen Buchmärkten ist ein verhaltener Optimismus zurückgekehrt. Der befürchtete Flächenbrand durch mobile Apps und E-Books ist ausgeblieben, die Verkaufszahlen haben sich stabilisiert – und in einzelnen Märkten sind sie sogar leicht steigend. 


Menschen wollen als Gegenentwurf zum Digitalen etwas Haptisches, Greifbares in ihren Händen halten. Eine Studie von Two Sides aus dem Jahr 2017 zeigt, dass 72 Prozent gerne gedruckte Bücher bevorzugen, um vom digitalen Informations-Overflow abzuschalten. Das Buch wird in einer digitalen Welt zum Lean-Back-Medium schlechthin und trägt somit wesentlich zur Entschleunigung bei.

Natürlich hat das gedruckte Buch in einzelnen Segmenten, wie etwa der Belletristik in Form von Taschenbüchern, Marktanteile eingebüsst – in den USA liegt der Anteil von E-Books am Gesamtmarkt bei 19 Prozent (2017). Allerdings entspricht dies einem Rückgang beim Verkaufsvolumen von 10 Prozent innerhalb nur eines Jahres. Was aber umso mehr erstaunt, ist, dass die Zahl an verkauften Büchern gerade in den USA 2018 um 8 Millionen auf insgesamt 695 Millionen Exemplare gestiegen ist.

Wandel die einzige Konstante
Die USA sind aber kein Einzelfall. Der deutsche Kinder- und Jugendbuchmarkt verzeichnete 2018 laut MediaControl-Zahlen mit einem Plus von 4,4 Prozent ein ausgeprägtes Wachstum. Im Gegensatz dazu stagniert der E-Book-Anteil in Deutschland schon seit mehreren Jahren und hat sich zwischen 6 und 7 Prozent eingependelt. 

Auch aus Grossbritannien kommen durchwegs positive Meldungen. Dort wuchs der Buchmarkt 2018 um 0,3 Prozent auf 191 Millionen verkaufte Exemplare, und der Umsatz stieg um 2,1 Prozent auf 1,63 Milliarden Pfund an. Zusätzlich hat die Booksellers Association ein Wachstum bei den unabhängigen Buchhandlungen ausgemacht – ein absolut gegenläufiger Trend zur Entwicklung im Einzelhandel. Gerade wenn es um höherwertige Bücher geht, wollen die Konsumenten die Bücher vor dem Kauf in der Hand halten. 

Anpassungsfähigkeit der Buchverlage
Das bedeutet aber nicht, dass das Verlagswesen zur Tagesordnung übergehen kann – der Wandel hält viel mehr an und ist, wie in vielen Branchen auch, die einzige Konstante. Neue Formen der Content-Generierung, die Zusammenarbeit zwischen Autoren, Verlagen und Lesern sowie innovative Geschäftsmodelle werden die Branche auch in Zukunft weiterhin beschäftigen. 

Wobei sich die Branche nicht verstecken muss – mit einem Umsatz von 122 Milliarden Dollar (Quelle: Studie Bookmap 2017) ist der weltweite Buchmarkt dreimal so gross wie die Musikindustrie – und vor allem in Europa eine Grösse. 2017 erzielten europäische Buchverlage einen Gesamtumsatz von 22,2 Milliarden Euro (Quelle: European Book Publishing Statistics).

Bücher mit Added Value
Allgemein geht der Trend zu hochwertig ausgestatteten Büchern, denen mit besonderen Ausstattungsvarianten noch zusätzliche haptische Erlebnisse eingehaucht werden. Das Spektrum ist riesig und reicht von speziellen Bedruckstoffen bis hin zu Glanz-, Matt- oder Soft-Touch-Folien, dem digitalen Spotlack, ein- oder mehrfarbigen Heissfolienprägungen, abgerundeten Ecken an Buchblock und Decke bis hin zu Laserstanzungen und zum personalisierten Bedrucken der Schnittkanten. 

«Solche Added Values sind gerade vor dem Hintergrund digitaler Konkurrenzmedien im Kampf um die Leser wichtig, vor allem dann wenn das Buch im stationären Handel verkauft wird», sagt Erik Kurtz, Geschäftsführender Gesellschafter der Kösel GmbH & Co. KG, einem der führenden Buchproduzenten in Europa.
Book-of-One ist Realität 
Trotz der positiven Signale für das gedruckte Buch steht die gesamte Wertschöpfungskette Buch vor gewaltigen Herausforderungen. Für die Produktion gilt es, den Trend zu immer kleineren Auflagen bis zur Auflage 1 in einem industriellen Umfeld effizient abzubilden. Dies geht nur durch eine lückenlose Digitalisierung. Produziert wird nur noch nach Bedarf. Die Lagerhaltung wird immer stärker in der Produktion aufgehen. Technisch ist das alles heute schon machbar.

Der Digitaldruck liefert hier die richtigen Antworten. Derzeit werden 10 Prozent aller gedruckten Bücher in Europa digital produziert. Bis 2022 wird das Schwarzweiss- sowie das Farbvolumen um voraussichtlich 15 Prozent jährlich wachsen (Quelle: Western Europe Production Digital Printing, Market Overview Report; Caslon; 2017). 

Schon heute ist es möglich, mit Lösungen von Müller Martini Bücher in Soft- oder Hardcover-Ausstattung in Auflage 1 zu produzieren. Eine umfassende Integration und Vernetzung aller Module sorgt hier trotz aller Individualität für die notwendige Effizienz. Eine «Mass Customization» – die Anpassung eines Serienproduktes an die Bedürfnisse eines Kunden – ist aufgrund des Automatisierungsgrades über die gesamte Prozesskette keine Zukunftsmusik mehr. 

Dynamisches Publizieren
Das nächste Thema, das auf Verlage sowie auf Druckdienstleister zukommen wird, ist das dynamische Publizieren. Damit sollen relevante variable Inhalte für bestimmte Zielgruppen oder gar einzelne Leser aufbereitet werden. Basierend auf Templates, die auf Online-Plattformen bereitliegen, können Nutzer Inhalte aus verschiedenen Quellen zusammenführen – einschliesslich eigener Bilder und Texte. Fotobücher oder das Self-Publishing zeigen, in welche Richtung es gehen kann. Weitere Bereiche sind Bildung, Reisen und Fachbücher sein. 

Ein typisches Beispiel für das dynamische Publizieren ist etwa ein Reiseführer, den sich der Leser für seinen Urlaub gemäss seiner Interessen individuell auf einer Plattform zusammenstellen kann. Im Anschluss wird das Buch gedruckt und direkt ausgeliefert. Auf der Plattform kann der Leser festlegen, welche Inhalte er mit auf die Reise nehmen möchte. Die werden ihm dann automatisch in eine App auf seinem Tablet oder Handy gespielt und in einem ansehnlichen responsive Design dargestellt. 

Attraktive Geschäftsmodelle
Während der Reise wird das Buch im wahrsten Sinne des Wortes zum Leben erweckt, indem einzelne Sehenswürdigkeiten mit Fotos verknüpft würden, die dann in den sozialen Medien gepostet werden könnten. Zuhause kann man ein persönliches Fotobuch erstellen, das um Informationen aus dem Reiseführer über die Attraktionen und Sehenswürdigkeit ergänzt wird. 

Das Beispiel zeigt, dass sich über die Digitalisierung für das Buch neue Chancen ergeben. In dem Information-Overflow kann über Print das wirklich Wichtige selektiert und in Büchern festgehalten werden. In Zukunft gilt es, die Stärken des gedruckten Buchs mit den Möglichkeiten digitaler Formate – wie sofortige Verfügbarkeit, Individualisierung, Aktualisierung – zu verbinden. Dann steht der Erfolgsgeschichte des Buches auch in Zukunft nichts im Weg.


Ihr
Knud Wassermann
Chefredaktor «Graphische Revue»