08.09.2020 / Inga Wiens

«Eine Branche unter Druck hat viel mehr Dynamik»

Inga Wiens (36) ist bei Müller Martini als Regional Sales Manager zuständig für die Region Greater China / China, Taiwan und Südkorea. In diesem Blog erzählt die studierte Sinologin über ihre Erlebnisse auf dem chinesischen Druckmarkt, ihre Erfahrungen als Frau in der von Männern dominierten grafischen Branche und welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf ihren beruflichen Alltag hat.

In der grafischen Industrie bin ich über zwei Umwege – sprich über eine Berufslehre in einer anderen Branche und über ein Studium, das ebenfalls nichts mit Maschinen zu tun hatte – gelandet. Geboren und aufgewachsen in Bielefeld absolvierte ich dort nach dem Abitur eine Banklehre. Obwohl in meiner Kindheit Finanzbeamtin mein Traumberuf war, habe ich schnell festgestellt, dass meine berufliche Zukunft nicht in der Finanzbranche liegt. 

Deshalb ging ich in Münster (wo ich meinen Bachelor machte) und in Hamburg (wo ich mit dem Master abschloss) auf die Universität und studierte Sinologie. Mein Studium ergänzte ich mit zwei Auslandsemestern in den beiden Hauptstädten Beijing (China) und Taipeh (Taiwan), von denen ich enorm profitieren und meine Sprachkenntnisse verbessern konnte. 

Dass meine Studienwahl auf China-Kunde fiel, hatte zwei Gründe. Zum einen hatte ich schon immer ein ausgesprochenes Faible für Sprachen und ein grosses Interesse für fremde Kulturen. Zum andern war mein in der Automobilindustrie tätiger Vater regelmässig beruflich auf Montage in China, hat mir jeweils Spannendes von dort berichtet und damit mein Interesse für dieses faszinierende Land geweckt. 

Ich suchte einen B2B-Job mit vielen Kundenkontakten
Zwar wäre mir nach meinem Uni-Abschluss auch eine wissenschaftliche Karriere offen gestanden. Doch das reizte mich nicht. Vielmehr suchte ich eine berufliche Herausforderung, bei der ich mein Studium und die mir in der Banklehre angeeigneten betriebswirtschaftlichen Kenntnisse vereinen konnte. Deshalb fokussierte ich meine Suche auf einen B2B-Job mit vielen Kundenkontakten und trat 2014 meine erste Stelle bei Kolbus in Rahden an.

Nach zwei Jahren als Trainee kam ich in den Innendienst und war dort zuständig für China. Dabei war ich nicht nur federführend bei Kundenprojekten, sondern zusammen mit einer Kollegin aus dem Marketing de facto auch Co-Projektleiterin für die wichtigsten Messen in China – darunter die alle vier Jahre stattfindende China Print in Beijing und die im Zwei-Jahres-Rhythmus organisierte All In Print China in Shanghai, wo ich jeweils auch während der gesamten Messedauer auf dem Stand war. Ausserdem schrieb ich regelmässig Artikel für die von mir erstellte und gepflegte Website der asiatischen Kolbus-Vertretung und gestaltete den Video-Kanal für das chinesische YouTube-Pendant Youku

Von Kolbus zu Müller Martini: ein fliessender Übergang
Nach der Übernahme des Klebebinder- und Buchlinien-Geschäfts von Kolbus durch Müller Martini vor zwei Jahren änderte sich zwar meine Funktionsbezeichnung. Neu steht Regional Sales Manager Greater China / China, Taiwan und Südkorea auf meiner Visitenkarte. Was meine berufliche Tätigkeit anbelangt, änderte sich aber nur wenig. Ich betreue immer noch die gleichen chinesischen Kunden – auch wenn (ich denke da insbesondere an die Sammelheftung und an Finishing 4.0-Lösungen) das Maschinen-Portfolio umfangreicher geworden ist und ich in China mit neuen Kollegen von Müller Martini zusammenarbeite.

So erlebte ich den Übergang von Kolbus zu Müller Martini als sehr fliessend, und ich fühlte mich vom ersten Tag an bei meinem neuen Arbeitgeber willkommen. Natürlich gab es am Anfang neue Herausforderungen. So musste ich bei einigen chinesischen Kunden, die als langjährige Kolbus-Anwender dem Deal erst etwas skeptisch gegenüberstanden, die Wogen glätten – was mir recht gut gelang, da sie mich ja seit Jahren kannten. Zudem musste ich mich bei Müller Martini an neue Ansprechpersonen und an neue Prozesse (Layouts/ERP-System), die definierter und standardisierter sind als bei Kolbus, gewöhnen. 

Dies fiel mir umso leichter, weil Kolbus und Müller Martini als Familienunternehmen über eine ähnliche Firmenphilosophie mit einer angenehmen Arbeitsatmosphäre und Kollegialität sowie über flache Hierarchiestrukturen verfügen, die – ganz anders als beispielsweise auf einer Bank – den Mitarbeitenden viel Einfluss- und Mitgestaltungsmöglichkeiten bieten. 

Jeder Kunde hat sein eigenes Businessmodell 

Weil Müller Martini in China ein breiteres Portfolio im Programm hatte als Kolbus, hat sich mein Kundenstamm auf einen Schlag markant erweitert. Und damit auch meine Reisetätigkeit – ein Aspekt meines Berufs, der mir besonders gefällt. In normalen Jahren fliege ich alle zwei/drei Monate nach China. Mit den Kunden vor Ort von Angesicht zu Angesicht ein Projekt zu gestalten, finde ich überaus spannend. Am Tisch über neue Maschineninvestitionen zu sprechen, hat deshalb an Bedeutung gewonnen, weil heutzutage jeder Kunde sein eigenes Businessmodell hat und Smart Factories auch in China immer wichtiger werden.

Dass ich fliessend Chinesisch spreche und wir nicht mühsam über drei Ecken übersetzen müssen, vereinfacht und beschleunigt natürlich die Diskussionen über technische Details. Die Kunden finden sofort Vertrauen und binden mich so enger in ihre Pläne und Projekte ein. Und es fördert auch die Partnerschaft über das rein Geschäftliche hinaus, haben doch gesellschaftliche Komponenten wie etwa gemeinsame Essen in China einen ähnlich hohen Stellenwert wie formelle Gespräche.

In China hat es viele Frauen in Top-Positionen
Dabei haben chinesische Kunden nicht die geringsten Vorbehalte, Maschinenfragen mit einer Frau zu besprechen. Denn es ist in China keine Seltenheit, dass auch in grossen grafischen Betrieben Frauen Top-Positionen besetzen. Diesbezüglich ist China sehr fortschrittlich…

…und unterscheidet sich deutlich von anderen Breitengraden, wo viele Druckereien und Weiterverarbeitungsbetriebe nach wie vor eine Männerbastion sind. Genauso ist es übrigens auch bei Müller Martini, wo ich in meiner Position weit und breit die einzige Frau bin. Schon bei meiner ersten drupa im Jahr 2016 war mir bei einem Abstecher zum Müller Martini-Stand aufgefallen, dass die Müller Martini-Welt vorwiegend männlich ist – während wir bei Kolbus deutlich mehr Frauen hatten. Mittlerweile ist mir jedoch durch Erlebtes und konkretes Nachfragen klargeworden, dass dies bei Müller Martini organisch so gewachsen ist und keinerlei Vorbehalte gegen Frauen auch in Kaderpositionen bestehen. Grosse Maschinen assoziiert man halt auch heutzutage immer noch mit Männern – obwohl in der grafischen Branche viel für die Frauenförderung getan wird.

Die Corona-Pandemie brachte uns auf neue Ideen
Ob Frau oder Mann: Von einem sind wir in diesem denkwürdigen Jahr alle gleich betroffen. Die Corona-Pandemie hatte und hat immer noch auch auf mich grosse Auswirkungen. So habe ich 2020 noch keine einzige Dienstreise gemacht, war erstmals in meiner beruflichen Karriere von Kurzarbeit betroffen und verrichte wie viele meiner Kolleg(inn)en immer noch Home-Office. Zwar konnten unsere Verkäufer in China mehrere wegen des Lockdowns blockierte Projekte wiederaufnehmen und einige davon zum Abschluss bringen. Meine persönlichen Kundenkontakte beschränken sich aktuell aber auf WeChat, Skype, Telefon und Mail.

Immerhin brachte uns die aussergewöhnliche Notsituation auf völlig neue Ideen. So boten wir einem Kunden in der taiwanesischen Stadt New Taipeh City aus dem Werk in Rahden erfolgreich eine Video-Live-Demo unseres Klebebinders KM 610.A mit vier unterschiedlichen Produkten und drei Umrüstvorgängen. Ursprünglich wollte sich der Kunde die Maschine in unserem Blauen Salon anschauen, doch das war wegen der Reisebeschränkungen nicht möglich.

Das Abenteuer mit Handykamera, Selfiestick und einem einzigen Testlauf am Tag zuvor war ein durchschlagender Erfolg. Nur wenige Wochen nach der Demo, bei der mit Ausnahme eines kurzen Unterbruchs der Internetverbindung alles reibungslos klappte, unterzeichnete der Kunde den Kaufvertrag für die umfangreiche Softcover-Linie.

Zusätzlich gab uns der Kunde noch ein paar Tipps für weitere Online-Demos. Für mich war dieser Maschinenverkauf ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie wir in einer schwierigen Situation und trotz Reiseverboten die Dienstleistungen für unsere Kunden aufrechterhalten können. Es war eine schöne Geschichte in einer weniger schönen Zeit. Und es war auch ein Beweis dafür, welches Vertrauen unsere Kunden in die Müller Martini-Systeme setzen.

Online-Module können die drupa nicht ersetzen
Ein schwerer Schlag war hingegen für uns alle die Verschiebung der drupa ins nächste Jahr. 2016 kamen zahlreiche grosse Gruppen aus China nach Düsseldorf. Insbesondere für meinen Markt erachte ich die drupa – trotz der beiden grossen grafischen Messen in China – als unverzichtbar. Sie kann selbst durch die innovativsten Online-Module nicht ersetzt werden. Ich treffe auf der drupa Kunden, die ich während meiner China-Reisen wegen der Grösse des Landes nicht besuchen kann. Ich hoffe deshalb, dass die drupa 2021 stattfinden wird.

Auch wenn die Corona-Krise tiefe Spuren hinterlassen und es in unserer Industrie zu weiteren Umstrukturierungen kommen wird, habe ich keine Zweifel, dass Printprodukte eine Zukunft haben – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen über die negativen Folgen von zu häufigem Lesen in elektronischen Medien. Die grafische Branche wird zwar unter Druck bleiben. Doch ich sehe es positiv: Eine Branche unter Druck hat viel mehr Dynamik. Ich denke da beispielsweise an personalisierte Produkte und den On-Demand-Trend – Geschäftsfelder, in denen Müller Martini mit seinen Finishing 4.0-Lösungen führend ist.

Mein Herz schlägt weiter für Print
Ob beruflich oder privat: Mein Herz schlägt jedenfalls weiter für Print. Klar konsumiere auch ich aktuelle News vorwiegend in den elektronischen Medien. Aber Zeitschriften, Belletristik und Romane lese ich ausschliesslich in gedruckter Form. Es wirkt auf mich nach einem langen Tag vor dem Computer beruhigend, ein Printprodukt in den Händen zu haben. Und es gibt für mich nichts Inspirierenderes, als für die Zubereitung eines feinen Essens in einem gedruckten Kochbuch zu stöbern.


Ihre 
Inga Wiens, Regional Sales Manager Greater China Müller Martini