12.11.2019 / Fredy Haessig

Als Bub wollte ich Rennfahrer werden

Für meinen Traumberuf war die Schweiz meiner Jugend das falsche Land, also wurde ich Maschinenmechaniker. Und das auch nur durch Zufall, denn eigentlich erwarteten sie bei Müller Martini nicht mich, sondern meinen besten Freund Urs. Jetzt, 47 Jahre später mit 63, gehe ich mehr als zufrieden und glücklich in Frührente. 


Mir stehen glücklicherweise die zwei wertvollsten Güter, die ein Rentner haben kann, zur Verfügung: Zeit und Gesundheit. Langeweile sollte keine aufkommen. Ich will aus tausenden digitalen Bildern Fotobücher gestalten, mit dem Mountainbike regelmässig auf die Schwägalp hochfahren oder Motorradtouren durch das Südtirol unternehmen. Und weil meine Frau erst in vier Jahren in den Ruhestand treten wird, schlüpfe ich natürlich in die Rolle des Hausmanns.

In 47 Jahren hatte ich nie den Wunsch, die Firma zu verlassen. Viele Kollegen haben es und sind zurückgekommen. «Du musst es gar nicht erst versuchen, Fredy, es ist nirgendwo besser», sagten sie dann. Für mich stimmte es. Ich mochte, was ich tat, der Lohn und die Sozialleistungen waren gut, und überdies war die Firma in verschiedener Hinsicht grosszügig. Feierte früher zum Beispiel der Patron Hans Müller einen runden Geburtstag, bekamen wir irgendwann im Mai den doppelten Lohn ausbezahlt verbunden mit einem Dankeschön. Wir Mitarbeitenden seien der Grund für den Erfolg des Unternehmens, sagte er. Das Gesamtpaket passte für mich, ich bin Müller Martini dankbar für alles. 

Als Bub wollte ich Autorennfahrer werden. Oder Testfahrer. Clay Regazzoni wurde mein Idol, und noch heute sammle ich Formel-1-Modelle von Ferrari und Sauber. Unterdessen besitze ich rund 150 Stück. Erst kürzlich erhielt ich das Modell des Autos, das Charles Leclerc 2018 bei Sauber fuhr. Spätestens wenn Leclerc den Weltmeistertitel holt, wird es viel Wert sein. Und Weltmeister wird er ganz bestimmt, der hat so viel Talent. 

«Spontanbewerbung» beschert Ausbildungsplatz
In der Schweiz war es während meiner Jugendzeit leider nicht möglich, Rennfahrer zu werden. Wir hatten hier ja nicht einmal eine Rennstrecke. Also sollte es zumindest Automechaniker sein. Aber die Schnupperlehre fand ich langweilig, nicht herausfordernd – ich hatte es mir einfach anders vorgestellt. Mein bester Freund Urs erzählte mir dann von seiner Schnupperlehre als Maschinenmechaniker bei Müller Martini, die Bewerbung für die Lehrstelle hatte er bereits geschrieben. 

Als wir eines Tages in unserer Baumhütte sassen und philosophierten, war er sich plötzlich nicht mehr sicher. Also nahm ich seine Bewerbung und strich seinen Namen durch, schrieb meinen hin und schickte die Unterlagen ab. Ich wusste, dass Maschinenmechaniker irgendwas mit Metall «basteln», mehr nicht. Ich bekam die Lehrstelle. Der Lehrmeister bei Müller Martini realisierte erst am ersten Arbeitstag, dass nicht der Urs anfing, sondern eben der Haessig. Und Urs? Der machte eine Lehre als Maurer und baute später ein Gartenbauunternehmen auf, wir sind nach wie vor gute Freunde.



Ein Prosit auf die Verbundenheit! Fredy Haessig wünscht der Kundschaft und den Mitarbeitenden von Müller Martini alles Gute für die Zukunft.

«Zeigte sich der Kunde danach zufrieden, war ich glücklich»
In der Ausbildung gingen die Lernenden damals im Drei-Monats-Rhythmus durch die Abteilungen. Besonders glücklich war ich in der Versuchsabteilung, und es war kein Zufall, dass ich länger dortblieb, weil auch die Vorgesetzten fanden, ich sei am richtigen Ort. Statt mit Autos, wie einst gedacht, beschäftigte ich mich nun halt mit Buchbindemaschinen. Die Lage der Weltwirtschaft wars angespannt, weshalb ich noch während der Lehre die militärische Grundbildung hinter mich brachte. Ich wollte am Ende der Ausbildung unbedingt bereit sein für die Arbeitswelt. Das war sicher auch ein Grund dafür, dass ich bei Müller Martini bleiben konnte. 

Nun begannen hochinteressante Jahre in der Montage der Klebebinder. Weil es noch keine Serviceabteilung gab, waren wir für alles von A bis Z verantwortlich. Wir bauten in Felben die Maschinen zusammen, bis alles funktionierte. Natürlich wollte ich bei der Montage vor Ort keine Blamage erleben, also musste schon vorher alles perfekt sein. Erst dann wurde ausgeliefert, und ich bestieg den Flieger. Die Montage dauerte vier bis zehn Wochen – je nach Maschinentyp und Dimension der Anlage. Reizvoll war für mich immer, das «Ding» zu montieren und in Betrieb zu nehmen. Zeigte sich der Kunde danach zufrieden, war ich glücklich.

Goldgräberstimmung rund um den Globus
Wir Monteure genossen damals bei den Kunden ein hohes Ansehen. Es war üblich, vom Firmeninhaber oder vom Produktionsleiter jeweils im Hotel abgeholt, umfassend betreut und zum Essen ausgeführt zu werden. Meine erste Auslandmontage erlebte ich 1977 in Amman, der Hauptstadt von Jordanien. Als ich mich nach getaner Arbeit verabschiedete, steckte mir der Chef ein Kuvert mit einem grosszügigen Trinkgeld zu. Da realisierte ich, weshalb alle Müller Martinianer auf Montage wollten.

Ich reiste in so viele Länder! Spannend war es überall, denn man hatte keine Ahnung, was einen erwartet. Sonderbar war ein Auftrag in Algerien. Zuerst wollten sie mich partout nicht in meinem gewünschten Hotel «El Aurassi» unterbringen. «Ausgebucht.» Stattdessen sollte ich andernorts ein Zimmer beziehen, in dem es von Käfern nur so wimmelte. Als ich dann auf eigene Faust im «El Aurassi» nachfragte, hiess es: «Mais oui, monsieur! Darf es ein Zimmer mit Meersicht sein?» Später, auf der Baustelle, ging der Spuk weiter. Man brachte mich in eine abgelegene Halle ohne Fenster, ohne einen Unterlagsboden und auch ohne Strom, und ich weigerte mich, die Anlage in den Morast zu stellen. 

Zu Hause bei Müller Martini wussten sie bald, dass ihr Monteur offensichtlich «zu faul zum Arbeiten» sei – die Algerier hatten in die Schweiz gekabelt, noch bevor ich es selber tun konnte. Am Ende unterschrieb der Kunde eine Verzichterklärung für jegliche Garantieleistungen. Bei der Installation stützte ich die Anlage dann wenigstens auf Metallplatten ab, um ein Mindestmass an Stabilität zu erhalten. Ein Jahr später, als endlich Strom vorhanden war, reiste ein Kollege zur Inbetriebnahme abermals an. Standschäden waren bereits sichtbar, aber immerhin war ein Boden eingebaut respektive die Maschine «eingegossen» worden. Später erfuhren wir, dass die Anlage mit ausländischen Fördergeldern realisiert wurde. Sie soll nie betrieben worden sein.

Eine schöne Erinnerung verbindet mich mit Montreal, das ich erstmals 1983 anlässlich eines Montageeinsatzes in der kanadischen Provinz Québec besuchte. Die Formel-1-Strecke auf der Île de Notre Dame, so erfuhr ich, werde zu bestimmten Zeiten für gemütliche Spritzfahrten mit dem Privatauto geöffnet. Aber erst auf den Tag genau 20 Jahre später, 2003, hatte ich Glück. Auf dem Kurs des Grossen Preises von Kanada eine Runde zu drehen, war grossartig. 

Heimflug wegen der Olympischen Spiele…
Kurios endete 1980 eine Montage in Kiew, das damals zur Sowjetunion gehörte. Eines schönen Tages und mitten in der Arbeit wurden wir angehalten, alles stehen und liegen zu lassen und die Heimreise anzutreten. Im Flugzeug fanden wir uns wieder mit Technikern anderer Schweizer Unternehmen, die das Land ebenfalls verlassen mussten. Der Grund: Zur selben Zeit wurden in der russischen Hauptstadt die Olympischen Sommerspiele ausgetragen, weshalb die kommunistische Führung viele Lebensmittel aus anderen Regionen des Landes abzog, um der Welt in Moskau Wohlstand im Überfluss vorzugaukeln.

1986 dachte ich langsam aber sicher daran, die Reisetätigkeit zu reduzieren und sesshaft zu werden. Mehrmonatige Projekte in China waren meine letzten grossen Montagen. In Shanghai war ich für zwei Anlagen verantwortlich, die eine montiere ich, die andere ein junger Monteur. Das dritte Projekt wurde in Peking realisiert. Ausserdem begleitete ich den damaligen Verkaufsdirektor Rolf Zängerle auf eine Rundreise, die uns zu zehn Kunden führte.

Die Montagekontrolle als Auffangbecken für Reisemüde
Ab 1987 war ich Mitglied der Montagekontrolle, die die interne Abnahme der Anlagen nach Checkliste sicherstellte. Die Montagekontrolle war das Auffangbecken für Reisemüde. Hier konnten wir unsere Erfahrungen bestens einfliessen lassen. Ab 1991 arbeitete ich dann als Instruktor in der Ausbildungsabteilung. Wir fingen an, die Kunden zur Schulung ins Werk nach Felben zu holen, und weil ich in all den Jahren fliessend Französisch und Englisch zu sprechen lernte, war ich prädestiniert für diese Funktion. Wir instruierten nicht nur Kunden, sondern auch die Kollegen der ausländischen Servicevertretungen. 

Die Schulungen dauerten meistens eine Woche mit dem Ziel, dass die Teilnehmenden danach wussten, wie die Umstellung vom einen Produkt auf ein anderes funktioniert. Das Tempo beim Lernfortschritt variierte bei allen, sich darauf einzustellen, war für uns Instruktoren die Herausforderung. Das Wichtigste war, dass die Kursteilnehmer Selbstvertrauen beim Bedienen der Anlage aufbauen konnten.

Präsentationen als Verkaufssupport
Ich erinnere mich gut an die Eröffnung der Buchbindeakademie am 16./17. Februar 1995, das war eine richtig grosse Sache. 250 Journalisten waren angekündigt, und sogar Professor Werner Rebsamen, eine Klebebindekoryphäe, reiste aus den USA an. Alles war gerammelt voll, und weil im Schulungsraum nicht alle Platz fanden, übertrugen wir die Präsentation per TV-Bildschirm in die Räume nebenan. Da hatte ich schon Bammel vor meinem Auftritt. 

Ich bin Verkaufsleiter Rolf Zängerle heute noch dankbar für die intensive gemeinsame Vorbereitung, die mir auch später half, wenn ich an Messen vor die Leute treten musste. Die Präsentationen wurden zunehmend wichtiger, um die interessierte Kundschaft für unsere Maschinen zu begeistern. Die Kunden begannen, die Angebote genau zu vergleichen, dadurch wurde es für uns hektischer. Jährlich führten wir in Felben rund 100 Vorführungen durch, um den Verkauf anzukurbeln. 

Die Zeiten, in denen die Verkäufer die Beine auf den Schreibtisch legen und nur die Anrufe entgegen zu nehmen brauchten, waren Mitte der 1990er-Jahre vorbei. Umso surrealer erscheint der Rückblick auf die glorreiche Epoche in den 1980er-Jahren. Es war die Zeit, in der die Chinesen durch Europa reisten, um sich ein Bild der hiesigen Industrie zu machen. Sie kamen zum Schluss, dass sie die genau gleichen Anlagen in Betrieb nehmen wollten, also bestellten sie gleich 20 Klebebinde-Anlagen auf einmal. 20 Stück – das war einfach unvorstellbar! Wir wussten nicht, wie uns geschah, und ich glaube, auch in der Finanzabteilung kamen sie aus dem Staunen nicht heraus, als die vielen Millionen Franken auf das Firmenkonto flossen. Es war die Zeit, als selbst ein Servicetechniker Business Class reisen durfte, was übrigens nur wenig teurer war, weil in der Holzklasse ohnehin die Kosten für die schweren Werkzeugkoffer dazukamen. 

Es wird nie ohne Bücher gehen!
Seit meinem Firmeneintritt bei Müller Martini vor 47 Jahren ist so viel passiert. Mit den Jahren kannte ich hier in Felben einfach alle und alles. Die digitalen Medien veränderten die grafische Industrie einschneidend. Früher wurde alles gedruckt, heute gibt es E-Reader, und Werbung wanderte ins Internet ab. Ich glaube aber, dass es künftig ein Miteinander sein wird. Papier verschwindet nicht, es wird nie ohne Bücher gehen! Es fragt sich nur, ob die Talsohle durchschritten ist und welchen Anteil sich die grafische Industrie sichert.

Die Beziehungen zu Kollegen und Kunden haben mich geprägt. Faszinierend war die Freundlichkeit der Leute, ganz gleich in welches Land man hinkam und welche Gepflogenheiten dort galten. Die Veränderungen der letzten Jahre und die Entlassung vieler Kollegen beschäftigten mich sehr. Als 2015 das Werk am Standort Felben geschlossen wurde, brach unser ganzes soziales Umfeld in sich zusammen, das schmerzt heute noch sehr. 

Frühpensioniert zu werden, war nicht mein Plan, aber jetzt ist es gut, wie es ist. Ich bin glücklich über die gewonnen Jahre. Es war selbstverständlich für mich, einen Beitrag zu leisten, damit jüngere Kollegen ihre Arbeit bei Müller Martini behalten können. Nun freue ich mich auf die Pensioniertentreffen oder die Ausfahrt, die 10 bis 20 motorradbegeisterte Felbener jährlich unternehmen. Ich werde der Firma verbunden bleiben, schliesslich bin ich durch und durch Müller Martinianer!


Ihr
Fredy Haessig, langjähriger Chef-Instruktor für Müller Martini in der Buchbindeakademie in Felben