07.06.2022 / Frank Baier

«Virtuelle» Erlebnisse

Während es monatelang keine Spur von «physischen» Vor-Ort-Präsenz-Messen gab, versucht die Event-Branche, auf den Vorteilen von Online-Präsentationen zu beharren.

Die seit Frühjahr 2020 herrschende Corona-Pandemie hat über sehr lange Zeit persönliche Begegnungen von Menschen reduziert und schliesst teilweise immer noch «reale» Vor-Ort-Präsentationen von Unternehmen aus. Sie kennen diesen Spruch sicher sehr gut: «Ich bin gar nicht da!» Dies entgegnet Ihnen auf Anfrage der Chef, weil er am Telefon von einem Kunden verlangt wird, jedoch partout nicht gestört werden will. Derart abrupt reagiert auch schon mal die Kollegin, sobald sie sich eilig in den Feierabend, vielleicht auch in den Urlaub verabschieden möchte. Den Spruch hört man jedenfalls sehr oft.

Ebenso lange war auch diese schöne Redensart nicht zu hören: «Unser Unternehmen zeigt Präsenz.» In Zeiten der Corona-Pandemie kommt dem Wort Präsenz eine ganz eigene Bedeutung zu. Anwesenheit erhält in diesen Jahrgängen des persönlichen Abstandhaltens einen besonderen Stellenwert. Garantiert hätten wir nie im Leben vorher von einer Präsenz-Veranstaltung gesprochen. Heute wundert es wohl keinen mehr: Monate lang keine Spur von «physischen» Vor-Ort-Präsenz-Messen.

Öfters digitale Events
Wenngleich auch Veranstaltungen in «echten» Räumlichkeiten indessen wieder stattfinden, gibt es dennoch immer mehr Präsentationen direkt am Tablet-, Laptop- oder PC-Bildschirm. Demnach werden öfters digitale Events, Online-Seminare, Video-Konferenzen, Web-Chats, virtuelle Veranstaltungen organisiert. Anbieter von internetbasierten Präsentationen sprechen gern von den Vorteilen:
  • Besonders der finanzielle Vorteil aufgrund nicht anfallender Fahrt-, Reise- und Hotelkosten würde die Teilnehmenden überzeugen.
  • Ebenfalls lässt sich ausserordentlich viel Zeit einsparen, denn sämtliche Inhalte lassen sich bequem vom Bildschirm aus verfolgen.
  • Der inhaltliche Fokus bleibe oft bei den Daten, Fakten und Zahlen – Hintergrund-Gespräche lenkten nicht vom festgelegten Thema ab.
  • Mithilfe des Online-Events würden deutlich mehr Interessenten aus aller Welt und teils andere Kundengruppen als sonst erreicht.

Gerade der letzte Punkt gibt jedoch Anlass für Zweifel. Ständig locken Messegesellschaften, Verlags- und Medienhäuser oder Unternehmen Interessenten mit der Teilnahme an oft komplett kostenfreien digitalen Veranstaltungen. Informationen von Psychologen zufolge ist die Aufmerksamkeitsspanne von Menschen bei Online-Events viel geringer als bei Präsenz-Veranstaltungen. Bei einem digitalen Seminar referiert oft nur eine einzige Person vor laufender Kamera, die Zuschauer verlieren meistens schnell das Interesse – und schalten den Computer aus. Mittels zusätzlicher interaktiver Elemente, wie Fragen des Publikums per Chat, Interviews oder eingespielter Animationen und Videos, liesse sich zwar noch entgegen steuern. 

Klarer Nachteil: Speziell bei solchen kostenfreien Online-Events soll die «No-Show-Rate» deutlich höher als bei Präsenz-Veranstaltungen liegen. Ihr Anteil betrage nicht selten zwei Drittel, letztlich sind von den registrierten Teilnehmenden gar nicht so viele dabei. Dadurch werden die Erwartungen des Veranstalters nicht erfüllt.

Hohe «No-Show-Rate»
Zugegeben, auch ich habe schon mal zu dieser von Online-Event-Veranstaltern gefürchteten «No-Show-Rate» beigetragen. Ich war vor einigen Monaten registrierter Teilnehmer eines virtuellen, für mich kostenfreien Symposiums der Papierindustrie, meldete mich wenige Minuten vor Beginn pünktlich per Log-in an. Die mit diversen Referenten angekündigte, halbtägige Veranstaltung begann mit technischen Problemen der Internetübertragung und der Simultanübersetzung – ich schaltete aber zunächst nicht ab. Dennoch hatte ich mir unter der Gestaltung der Fachvorträge etwas anderes vorgestellt, schaltete das Live-Streaming auf «stumm» und liess das Symposium im Hintergrund weiter laufen. Während meiner redaktionellen Tätigkeit habe ich noch ein-, zweimal reingeschaut und nach kaum zwei Stunden abgeschaltet.

Infolge der zunehmenden Grundimmunisierung der Menschen finden jetzt auch mehr Präsenz-Veranstaltungen statt: Messen und Open Houses, Konferenzen und Seminare, Mitgliederversammlungen und Verbandstreffen mit Teilnehmenden vor Ort. Damit gibt es also endlich wieder richtige persönliche «Face-to-face»-Treffen, überraschende Momente, unerwartete Anfragen, plötzliche Begegnungen, ungeahnte Impulse – was man eben nicht am Bildschirm erleben kann. 

Werden wir öfters wieder den bekannten Spruch «Ich bin gar nicht da!» hinsichtlich der demnächst geplanten Präsenz-Veranstaltungen hören?

Ihr
Frank Baier 
Chefredakteur «Bindereport»
 
07.06.2022 Frank Baier Chefredakteur «Bindereport»