40 Prozent der deutschen Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren lesen regelmässig ein gedrucktes Buch – ein Wert, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten unverändert geblieben ist.
Als ich sehr jung war, hat mich das Lesen gar nicht so interessiert. Als kleines Kind wollte ich hören und hatte viele Leute, die mir Bücher vorlasen – meine Eltern, meine Grosseltern und meine Patin. Besonders das Kinderbuch «Heidi» faszinierte mich. Auch die Kindergärtnerin erzählte immer spannende Geschichten, so dass ich kein Bedürfnis verspürte, selber zu lesen. Während der Primarschule ging ich für anderthalb Jahre in die USA, weil mein Vater dort eine Ausbildung machte. Und erst dort begann ich – auf Englisch – selber zu lesen. Ich verschlang bestimmt 100 Bände Mädchen-Krimis, und es war für mich ein grosses Drama, dass ich diese nicht in die Schweiz mitnehmen konnte.
Eintauchen in eine andere Welt
Neben dem Vorlesen im Familienverbund war auch das Hören von Kassetten, Hörbüchern und Hörspielen ein grosses Thema in meiner Kindheit. Zudem hatte ich ein reiches Biotop an Kinderbüchern. Als Jugendliche bekam das Lesen dann für mich eine andere Bedeutung und wurde für mich wie eine eigene Welt. Als ich etwa zehn war, wollte ich wie viele andere Kinder in diesem Alter wissen, was in den Köpfen von anderen abläuft. So las ich – auf Englisch – viele Sachbücher über alte Kulturen wie die Ägypter und Azteken, aber auch viele Romane, die im alten Ägypten, im alten Rom oder bei den Indianern spielten. Andere Welten entdecken kann man nirgends besser, als wenn man liest.
Man taucht in eine andere Welt hinein, die einen auch im Alltag begleitet. Nach meiner Rückkehr aus den USA habe ich natürlich auch deutsche Bücher entdeckt und wahnsinnig viel gelesen. Lesen war das Wichtigste in meiner Jugend. Zu wissen, dass es ein Buch gibt, in das man jeden Tag zurückkann und in dem man die Welt mit seinem eigenen Rhythmus viel umfassender erlebt als sie der Alltag bietet, war für mich sehr wichtig.
40 Prozent der deutschen Jugendlichen lesen regelmässig ein Buch
Für Jugendliche, die gerne lesen, hat das Eintauchen in die Lektüre heutzutage die gleiche Bedeutung wie für frühere Generationen. Sie erlaubt es, allmählich eine Welt im Kopf aufzufalten – im eigenen Tempo und mit viel Raum für eigene Gedanken. Ein Buch kann man jederzeit weglegen und sich vorstellen, wie die Geschichte weitergehen könnte und was ich nun machen würde, wenn ich eine der Figuren wäre. Beim Lesen ist man ganz bei sich selber und frei von seiner eigenen Alltagswelt. Auch das kann ausser dem Buch kein anderes Medium leisten.
In der Diskussion um den Rückgang des Lesens geraten oft zwei Dinge durcheinander. Denn lesen mussten Jugendliche noch nie so viel wie heute. Fast jede Tätigkeit am Computer verlangt, dass Texte gelesen werden. Wer ein Videospiel spielt, muss eine flotte Leserin sein. Wenn also beklagt wird, dass Jugendliche nicht mehr lesen, ist damit immer die Lektüre von Büchern, vor allem literarischer Texte, gemeint. Doch aus der jährlich erhobenen JIM-Studie über den medialen Alltag von Jugendlichen in Deutschland geht hervor, dass die Nutzung des gedruckten Buchs auch im Social-Media-Zeitalter stabil geblieben ist. Seit zwei Jahrzehnten lesen rund 40 Prozent der Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren regelmässig ein gedrucktes Buch.
97 Prozent der deutschsprachigen Jugendlichen zwischen 12 und 19 nutzen täglich das Internet. Der Wert für gedruckte Tageszeitungen beträgt mit 21 Prozent knapp die Hälfte der gedruckten Bücher. Bei den gedruckten Zeitschriften und Magazinen liegt er mit 14 Prozent noch tiefer. Interessant finde ich, dass die Jugendlichen die regionale Tageszeitung im Printbereich als am vertrauenswürdigsten empfinden.
Der Bilderbuchmarkt floriert
Man weiss (und das war schon immer so): Je gebildeter eine Familie ist, desto mehr lesen die Kinder – es ist also eine bildungspolitische Frage. Was man aber nicht vergessen darf: Man tut manchmal so, als ob in den 1950er-Jahren alle Jugendlichen gelesen hätten – was natürlich überhaupt nicht der Fall war. Während vieler Jahrhunderte hat nur eine gebildete Minderheit gelesen. Erst im 19. Jahrhundert vergrösserte sich die Zahl der Leser, aber auch damals war es nicht die grosse Masse. Bei aller Aufregung um aktuelle Leserzahlen darf man deshalb nicht so tun, als ob früher alle schön lesend zu Hause am Kaminfeuer gesessen hätten.
Auf dem Jugendbuch-Markt erkenne ich einige Trends. Erstens läuft der Jugendbuch-Markt grundsätzlich gut. Und zweitens gibt es einen Trend, der die Maschinenhersteller für die grafische Industrie freuen dürfte: Der Bilderbuch-Markt – bei dem Apps interessanterweise nicht besonders gut funktionieren – floriert. Da sind die Verlage mutig und wagen in künstlerischer Hinsicht viel – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene.
Dass digitale Medien grundsätzlich Gift für gedruckte Medien sind, glaube ich nicht. Man weiss ja mittlerweile aus vielen Studien, dass die Mediennutzung komplementär ist. Wie Umberto Eco und Jean-Claude Carrière in ihrem 2010 erschienenen Werk «Die grosse Zukunft des Buches» schreiben, gab es früher mal die Befürchtung, es würde sich niemand mehr Kathedralen anschauen, weil man deren Bilder nun in Büchern abgebildet finde. Doch das trat nicht ein – ebenso wie Theater oder Kino wegen des Fernsehens nicht verschwunden sind. Ich bin überzeugt: Der Mensch ist ein Wesen, das sich je mehr freut, desto grösser das Medienangebot ist.
Kindern sollen das Buch als etwas Wertvolles entdecken
Ich selber lese wissenschaftliche Sachen immer am Computer, weil ich sie aus ökologischen Gründen nicht ausdrucken will. Wenn ich etwas als Open Access in der Bibliothek haben kann, drucke ich nicht 100 Seiten aus. Oder ich kaufe – wenn es das gibt – das gedruckte Buch oder leihe es in der Bibliothek aus. Weil es übersichtlicher ist, arbeite ich viel lieber mit Büchern. Man kann Zettel hineinkleben, während das gleichzeitige Lesen und Schreiben am Computer mühsamer ist. Ehrlicherweise gebe ich aber zu, dass das E-Book einen grossen Vorteil hat: Ich kann einen Suchbegriff eingeben und finde diesen schnell.
Stichwort E-Books: Diese haben sich – wie übrigens auch bei den Erwachsenen – bei der jüngeren Generation im deutschsprachigen Raum nie durchgesetzt. In Deutschland betrug der Anteil E-Books bei Jugendlichen 2018 gemäss der JIM-Studie gerade mal 4 Prozent. Ich habe dazu auch ein typisches Beispiel aus unserer Familie: Meine beiden Töchter haben von den Grosseltern einen E-Reader geschenkt bekommen, doch die liegen zu Hause unbenutzt herum. Ich bin die Einzige in der Familie, die ein E-Book benutzt – für wissenschaftliche Zwecke.
Im deutschsprachigen Raum – und hier unterscheidet er sich etwas von den USA – haben wir eine traditionelle bildungsbürgerliche Kultur. Viele Eltern wollen ihren Kindern die Möglichkeit geben, das Buch als Medium, als etwas Wertvolles und als altbewährten europäischen Wert zu entdecken. Weil sie das Gefühl haben, Buch sei mit Bildung verbunden – nicht nur wegen des Inhalts, sondern wegen des Buchs als Kulturgut. Für hochwertige Bücher sind Eltern und Grosseltern durchaus bereit, etwas tiefer in den Geldbeutel zu greifen. Ein Smartphone bekommen die meisten Kinder ohnehin früher oder später. Aber viele Eltern finden es gut, wenn sie nicht nur in den Bildschirm starren.
Innovative Bücher haben eine grosse Zukunft
Ich sehe deshalb bezüglich Print für die junge Generation grosse Zukunftschancen. Print wird sich einpendeln und verliert – wie die vorhin erwähnten 40 Prozent bei den Jugendlichen zeigen – nicht überall an Boden. Ich bin deshalb überzeugt, dass innovative Bücher eine viel grössere Zukunft haben als etwa solche, die sich an Netflix orientieren. Innovativ sind zum Beispiel Bilderbücher, die mit Text-Bild-Kompositionen oder Formaten spielen, oder Romane, die aus der Innensicht unterschiedlicher Figuren erzählt sind.
Die Verlage würden einen grossen Fehler machen, wenn sie denken: «Die Jugendlichen lieben Netflix, also machen wir jetzt Netflix im Buch.» Das funktioniert so nicht, weil Literatur ganz andere mediale Möglichkeiten hat als Fernsehen und diese auch nutzen sollte. Es geht in der Literatur nicht nur um äussere Spannung, sondern vor allem um Empathie.
Ich selber lese immer noch wahnsinnig gern. Mich am Abend hinzusetzen, konzentriert und an einem Stück ein Buch zu lesen, ist für mich immer noch etwas vom Schönsten. Im Moment lese ich gerade ein Genre namens «Nature Writing» – eine Art Reiseliteratur, bei der Autorinnen und Autoren über ihr Wandern in der Natur und über ihre Erfahrungen mit Tieren erzählen. Es gibt in der Literatur einen Trend, Fragen wie «Was haben wir für ein Innenleben?» und «Was ist um uns herum?» mit poetischer Sprache zu thematisieren – und das finde das unglaublich spannend.
Ihre
Dr. Christine Lötscher, Privatdozentin für Populäre Literaturen und Medien an der Universität Zürich (Schweiz)