31.03.2020 / Reinhold Achtner

Der Anlagenbau ist eine ganz andere Welt

Am 31. März geht Reinhold Achtner nach 32 Jahren bei Müller Martini in Pension. Als «Mister Versandraum» war er bei der Realisierung zahlreicher grosser Projekte in deutschen Zeitungshäusern hautnah mit dabei. In diesem Blog wirft der 63-Jährige einen Blick zurück auf drei spannende Jahrzehnte in einer super-schönen Branche und erläutert, warum Gratis-Wochenblätter mit vielen Beilagen just in Deutschland ein grosses Erfolgsmodell sind.

Mein Kindheitstraum war es ja mal, als Handballer in der Bundesliga Karriere zu machen. Weil sich die Pläne als Profisportler jedoch zerschlugen, führte mich mein Weg in die grafische Branche. Zwar gibt es in meiner Familie keine Drucker oder Buchbinder. Doch mein persönliches Umfeld war grafisch geprägt durch Freunde und Bekannte, die mich motiviert haben, beruflich ebenfalls in die Druckindustrie zu gehen. Denn der grösste Arbeitgeber in der Region, in der ich aufgewachsen war, waren damals die rund 500 Mitarbeiter beschäftigende Illert Graphische Betriebe AG.

Und so startete ich 1982 meine berufliche Laufbahn nach dem Studium an der Technikerschule Fachrichtung Drucktechnik in Frankfurt und dem Abschluss als Staatlich geprüfter Drucktechniker als Abteilungsleiter in diesem Traditionsbetrieb in Steinheim, den es heute leider nicht mehr gibt. Drei Jahre später wechselte ich als Verkaufsleiter zu Heinrich Baumann Graf. Centrum in Frankfurt, ehe ich 1988 Niederlassungsleiter von Müller Martini Deutschland in Egelsbach (Hessen) wurde. 2003 übernahm ich zusätzlich die Niederlassung in Neuss (Nordrhein-Westfalen) und 2006 diejenige in Oberschleissheim (Bayern). Nach der Zusammenführung der Vertriebsregionen wurde ich erst Vertriebsleiter Deutschland Süd, danach auch Deutschland Nord und schliesslich Gesamtvertriebsleiter für Deutschland mitsamt Betreuung der wichtigsten Key-Account-Kunden.

Am Anfang dachte ich, das schaffe ich nicht 
Schon seit 2003 zeichnete ich mich – ermuntert durch Klaus Futterer, den langjährigen Geschäftsführer von Müller Martini Deutschland – für die Betreuung der Grosskunden verantwortlich. Dazu gehörten natürlich insbesondere die Zeitungshäuser. Nun kannte ich zwar Klebebinder und Sammelhefter, aber Versandräume waren für mich völlig neu. Der Anlagenbau ist eine ganz andere Welt und hat eine völlig andere Grössenordnung mit hohen und komplexen Anforderungen. Und auch die Investitionsvolumen nahmen neue Dimensionen an. Es macht schliesslich einen ein grossen Unterschied, ob man einen Auftrag über 500'000 oder einen über 30 Millionen Euro abwickelt. Offen gesagt: Am Anfang dachte ich, das schaffe ich nicht. 

Doch dann kam mein erstes grosses Projekt mit der Verlagsgruppe Rhein Main mit drei Zeitungs-Einstecksystemen NewsLiner – damals die ersten Maschinen dieses Typs. Alles lief bestens, und ich wurde mit dem Versand-Virus infiziert. Es hat mir während all der Jahre grossen Spass bereitet, in diesem spannenden Segment gemeinsam mit unseren Kunden zahlreiche Projekte zu realisieren. 



Müller Martini sichert seinen Kunden unbestreitbare Vorteile
Die grosse Herausforderung im Anlagenbau liegt zum einen in den technischen Möglichkeiten und Lösungswegen. Zum andern geht es natürlich auch darum, solch grosse Projekte vertraglich so zu gestalten, dass beide Partner damit zufrieden sind. Und drittens suchen wir stets nach Lösungen und Varianten, die uns vom Wettbewerber abheben. Das sind zwar oft nur Nuancen wie beispielsweise zu optimalere Gestaltung des gesamten Produktionsprozesses. Doch es gibt auch innovative Maschinen, mit denen Müller Martini seinen Kunden unbestreitbare Vorteile sichert. 

Ein typisches Beispiel ist das bei zahlreichen zufriedenen Zeitungsproduzenten – nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt – eingesetzte Einstecksystem Pro Liner (Link setzen: ). Dank der neuen Technik der Einstecktaschen, die eine sichere Führung der Beilagen ermöglicht, ohne dass die Zeitungen gedreht werden müssen, sowie dank der insbesondere für dünne Produkte wichtigen Vierfach-Greifer markierte der ProLiner einen technologischen Quantensprung.

Das gilt auch für das effiziente Paketbildungssystem FlexPack. Es vereint sämtliche Abläufe wie Stapeln, Zuführen des Unterbogens, Unterbogen-Beschriftung, Paketfolierung, Deckblatt-Druck und -Auflage sowie Paketumreifung in einer kompakten Anlage und spielt seine Stärken insbesondere bei der Verarbeitung von beilagenintensiven und stark regionalisierten Produkten voll aus.

Aus Partnern wurden Freunde
Doch mich faszinierte während all der Jahre nicht nur die Technik. Ich habe in der Zeitungs- und Printindustrie auch zahlreiche beeindruckende Persönlichkeiten getroffen. Obwohl wir teilweise harte Verhandlungen geführt haben, bin ich mit einigen von ihnen – so mit Uwe Günther, dem Geschäftsführer der Mediengruppe Münchner Merkur (mit dem ich in obigem Einstiegsbild vor dem Zeitungs-Einstecksystem ProLiner in München posiere) und mit Klaus Heist von der Heira-Gruppe Gernsheim (siehe zweites Bild, das mich mit Klaus Heist vor dem Hochleistungs-Sammelhefter Tempo E220 zeigt) bis heute freundschaftlich verbunden. Diese besonderen Erfahrungen möchte ich nicht missen.

Als ich 1988 meine neue Stelle bei Müller Martini antrat, gab es noch zahlreiche Regionalzeitungen. Das hat sich inzwischen radikal verändert. Als Folge sinkender Auflagen wurden in den vergangenen Jahrzehnten viele dieser Regionalzeitungen von grösseren Verlagen übernommen. Inzwischen wird immer mehr konsolidiert, da auch die Umfänge nahezu aller Tageszeitungen zurückgegangen sind. Reine News lassen sich nun mal elektronisch viel schneller zum Leser bringen, weshalb der Altersdurchschnitt von Zeitungslesern laufend steigt. 

Insofern hat der berühmte Slogan der «New York Times», «All the News That's Fit to Print», viel von seiner Kraft verloren. Ich sehe das ja in meiner eigenen Familie: Mein Sohn bedient sich hauptsächlich der E-Medien, ich aber brauche zusätzlich meine Zeitung. Für uns als Anlagenbauer bedeutet dieser Trend: Der Kuchen wird kleiner, weniger Maschinen müssen für den gleichen Output sorgen, die Projekte sind noch härter umkämpft, und die Preise werden strapaziert.

Beilagen-Boom: Wir Deutsche sind eben Schnäppchenjäger
Glücklicherweise stoppte der nach wie vor ungebrochene Beilagen-Boom bei den deutschen Wochenzeitungen dieses Negativszenario etwas und erschloss den Zeitungsverlagen – wie auch uns Systemherstellern (siehe mein oben erwähnten erwähntes ProLiner-Beispiel) – ein neues Geschäftsfeld. Dass die gratis zugestellten Wochenzeitungen mit ihren vielen Beilagen als weltweit einzigartiges Phänomen just in Deutschland so erfolgreich sind, erstaunt mich nicht. Denn wir Deutschen gelten – Stichwort «Geiz ist geil» – als Schnäppchenjäger und suchen in den Prospekten stets nach Sonderangeboten. Deshalb haben viele grössere Verlage Direktverteiler gekauft und integrieren die Prospekte in die als Träger dienenden Wochenblätter – was Müller Martini wiederum zu vielen Aufträgen verholfen hat.

Kein Wunder, ist der Beilagen-Boom, der sich meiner Erfahrung nach fortsetzen wird, der Investitionstreiber in der deutschen Zeitungsindustrie. Etwas überspitzt gesagt, wird fast ausschliesslich in die Erhöhung der Beilagen-Kapazitäten investiert. Nachgefragt wird nach Maschinen, die flexibel im Format, einfach zu bedienen und stabil in der Leistung sind – alles Stärken der Zeitungs-Einstecksysteme von Müller Martini.

Ich hoffe nur, dass dieser Boom nicht durch externe Einflüsse – etwa mit neuen Gesetzen, die verlangen, dass man am Briefkasten explizit vermerken muss, ob Beilagen geliefert werden dürfen – gebremst wird. Das wäre für die gesamte Druckindustrie eine wenig verheissungsvolle Entwicklung.

Retrofits werden immer wichtiger
Eine Entwicklung, die ich bei den Kunden ganz klar spüre: Der Service wird immer wichtiger. Weil sich eine grössere Investition angesichts des Rückgangs der Auflagen heute nicht mehr so einfach rechnet, werden die Betriebszeiten der vorhandenen Anlagen verlängert. Deshalb werden Retrofits immer wichtiger – genauso wie ein perfekter (Wartungs-)Service, mit dem unsere Kunden ihr Unterhaltspersonal reduzieren und Leistungen in Richtung Lieferanten verlagern können. 

Warum ich die Hälfte meines Lebens derselben Firma die Treue gehalten habe, ist schnell und einfach erklärt: Müller Martini ist ein stabiles, seriöses Familienunternehmen mit einer grossen Produktepalette. Ich habe in einer super-schönen Branchen viele spannende Jahre erlebt, mir ist in all den Jahren nie langweilig geworden, und ich werde die vielen Kontakte zu Persönlichkeiten in der Druckindustrie vermissen. Deshalb wende ich mich durchaus auch mit einem weinenden Auge dem dritten Lebensabschnitt zu.

Obwohl: Von Hundert auf Null fahre ich nicht gleich hinunter. Ich stehe Müller Martini noch einige Zeit als Berater zur Verfügung. 


Ihr
Reinhold Achtner
Gesamtvetriebsleiter Müller Martini Deutschland